Zum Thema Allmacht und Ohnmacht hatte Valentin Thurn (rechts) viel zu sagen. Foto: Achim Zweygarth

Im Nachtschicht-Gottesdienst hinterfragt Regisseur Valentin Thurn die Lebensmittelindustrie – und sich selbst.

S-Nord - An diesem Abend in der Martinskirche fühlt sich wahrscheinlich der eine oder andere ertappt. „Nach welchem Apfel greifen sie im Supermarkt?“ fragt Valentin Thurn, ohne eine Antwort abzuwarten, denn er kennt sie: „Nach dem, der makellos ist, nicht nach dem, der zwar Macken hat, aber trotzdem essbar wäre.“ Valentin Thurn ist Regisseur des Dokumentarfilms Taste the Waste, in dem er die Lebensmittelindustrie durchleuchtet. Doch diese sei nicht die Alleinschuldige an allem, was schief laufe. Er fragt: Sind wir am Ende die Bösewichte?

Valentin Thurn war am vergangenen Sonntag zu Gast beim Nachtschicht-Gottesdienst, der ausnahmsweise nicht wie üblich in der Obertürkheimer Andreaskirche, sondern in der Martinskirche im Stuttgarter Norden stattfand. Die Einladung kam von Petra Dais, der Jugendpfarrerin des Kirchenkreises Stuttgart. Sie ist Koordinatorin des Jugendkirchenfestivals, das derzeit in der Nordgemeinde mit allerhand Aktionen gefeiert wird. Der Gastauftritt war für dieses Jahr die letzte Ausgabe der Gottesdienstreihe, die vom Obertürkheimer Pfarrer Ralf Vogel vor zwölf Jahren ins Leben gerufen wurde und die er bis heute mit einem rund dreißig-köpfigen Team aus ehrenamtlichen Helfern koordiniert.Mit seiner Reihe verfolgt Vogel das Ziel den Gottesdienst mit der Lebenswirklichkeit der Kirchenbesucher zu verknüpfen. Dazu werden Gäste eingeladen, die zu einem bestimmten Thema etwas zu sagen haben und dabei gleichzeitig über sich selbst sprechen. „Es sollen glaubwürdige Menschen sein, die dazu animieren, selbst etwas auszuprobieren“, sagt Vogel.

40 bis 50 Prozent der Ernte landet im Supermarktregal

Die Gottesdienste stehen in diesem Jahr unter dem Motto Allmacht und Ohnmacht, und dazu hat Thurn einiges zu sagen. Die erste Szene aus Taste the Waste, die an diesem Abend an die Leinwand projiziert wird, macht den Kirchenbesuchern gleich zu Anfang die Macht der Konsumenten deutlich. Sie zeigt Landwirte bei der Ernte. Nur vierzig bis fünfzig Prozent der Kartoffeln, Tomaten oder Gurken fänden den Weg ins Supermarktregal. Der Rest werde noch vor Ort aus ästhetischen Gründen aussortiert und weggeworfen. Der Kunde kaufe nur das, was makellos aussehe. Bei den Recherchen und Dreharbeiten zu seinem Film habe ihn einiges schockiert und vieles überrascht, sagt Thurn später im Gespräch mit Pfarrer Vogel. Vor allem die Macht, die der Konsument durch sein Kaufverhalten habe. Würde dieser ab und zu nach dem Apfel mit den Macken greifen, hätte das unmittelbare Folgen für die Landwirtschaft. Zum Film animiert habe Thurn das Gegenteil der Verschwendung. Er wurde auf eine Gruppe von jungen Menschen aufmerksam, die „containern“, das heißt, sie treffen sich, um in Supermarkt-Containern nach Lebensmitteln zu suchen, die auf Grund eines abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatums oder mangelnder Qualität weggeworfen wurden, aber immer noch verzehrbar sind. Sie machen das, weil sie Studenten sind und nicht viel Geld haben, oder um Zeichen zu setzen.

Doch beim Nachtschicht-Gottesdienst ging es nicht nur darum, was weggeworfen wird, sondern ebenso darum, wie eingekauft wird. Vogel hat eine Umfrage unter jungen Menschen gemacht, was sie zum Kauf animiert und was sie davon abhält. Die Ergebnisse wurden von seinem Nachtschicht-Team dargestellt. Da waren diejenigen, die kaufen, was günstig ist. Und solche, die auf Arbeitsbedingungen bei der Herstellung achten. Nur zwölf bis zwanzig Prozent, zitiert Vogel eine Studie, gehörten zur letzteren Gruppe. Die Menschen seien weit davon entfernt, im gelobten Land zu sein, in dem Milch und Honig für alle fließe, sagt Vogel. „Im Gegenteil: Die Lebensmittel gehen förmlich den Bach runter.“