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Der Südwesten ist ein High-Tech-Land, aber auch eine Fundgrube für Sagen und Geschichten. Ortskundige Autoren berichten in unserer Serie von Schauplätzen des sagenhaften Baden-Württemberg.

Die Rottweiler werden gerne auch als Esel bezeichnet. Dieser Neckname kommt nicht von ungefähr. Da die Stadt hoch über dem Neckartal thront, benötigte man früher geeignete Transportmittel, um das Korn zu den Mühlen am Neckar und das Mehl wieder bergauf zu bringen. Hier lernten die Rottweiler die Qualitäten des Esels schätzen. In großer Zahl berichten Quellen seit dem ausgehenden Mittelalter im Zusammenhang mit den Mühlen von großen Eselsställen. Diese verfügten in der Regel über 30 und mehr Stellplätze für die Grauohren. Ein Netz von Eselswegen entstand rund um Rottweil, auf denen die Tiere unterwegs waren.

Selbst auf der berühmten Pürschgerichtskarte des David Rötlin von 1564, welche unsere Stadt in einem beeindruckenden gemalten Rundpanorama zeigt, sind als Detail Esel abgebildet, die von einem Treiber beaufsichtigt werden. Die Berufsgruppe der Eselstreiber lässt sich seit 1441 in Rottweil belegen. Selbst die langsam einsetzende Industrialisierung im 19. Jahrhundert verdrängte den Esel als Transportmittel lange nicht. 1850 sollen rund 100 Esel in der Stadt ihr Tagwerk verrichtet haben.

Die Rottweiler scheinen sich nach Ansicht der Historiker zunächst über den Necknamen mächtig geärgert und - zeitgleich mit der Abnahme der Eselszahl seit Beginn des 20. Jahrhunderts - schließlich mehr und mehr amüsiert haben. Heute sind die Bewohner sogar stolz auf ihre Verbindung zum Esel. Seit 2003 werden jährlich im Herbst sogenannte Eseltage gefeiert.

Ich selbst bin seit Kindestagen ein ausgesprochen großer Freund des Esels. Es handelt sich um ein intelligentes und selbstbewusstes Tier, was sich in vielen Fabeln - beispielsweise von Jean de La Fontaine - bestätigt findet. Daher bin ich über die Beziehung der Rottweiler zum Esel alles andere als unglücklich.

Die Sage vom gemalten Esel auf dem Neukircher Tor ist den meisten Mitbürgern bekannt. Sie wird in verschiedenen Varianten erzählt. Leider gibt es das Neukircher Tor nicht mehr, den Esel als Schutzpatron haben wir uns allerdings erhalten. Hier nun die Sage:

Vor Zeiten ließen die Rottweiler die Flucht nach Ägypten an das Neukircher Tor in der Au malen, zusammen mit dem alten Gebetsvers "Unter Deinen Schutz und Schirm fliehen wir!" Wie es das Unglück wollte, ging dem Maler bei der Heiligen Familie die Ölfarbe aus, und er malte diesen Bildteil mit Wasserfarben fertig. Gleich beim ersten Regen wusch das Wasser alles an dem Bild weg, was nicht mit Öl gemalt war. Am anderen Morgen sahen die Rottweiler verdutzt am Tor nur noch einen Esel mit der Beischrift: "Unter Deinen Schutz und Schirm fliehen wir!"

Thomas J. Engeser wurde 1948 in Rottweil geboren und ist dort auch aufgewachsen. 2001 wählten die Rottweiler den Rechtsanwalt zum Oberbürgermeister der ehemals freien Reichsstadt am Neckar.