Foto: Thommy Mardo

Anfang November macht das Musical „Cats“ Station in Stuttgart – auf dem Cannstatter Wasen.

Wien - Bilderbuchgeschichten müssen schön sein. Aber wenn sie zu schön klingen, um wahr zu sein, wird’s kritisch. Auch Dörte Niedermeier erzählt so eine rührende Geschichte. Sie handelt von einem elfjährigen Mädchen, das sich im Hamburger Musical-Theater von den Katzen verzaubern lässt und am Ende der Vorstellung sagt: „Genau das will ich später auch machen, ich will in ‚Cats‘ singen und tanzen. Und ich will auch diese Stulpen tragen.“

Es ist ihre eigene Geschichte.

Dörte Niedermeier hat sich den Wunsch erfüllt. Sie tanzt auf Samtpfoten und singt den Katzenblues. Die 28-Jährige ist Darstellerin in der „Cats“-Produktion, die ihr Zelt nach sechs Monaten in Wien am 3. November auf dem Cannstatter Wasen aufschlägt.

Musical-Star – ein Knochenjob

Allerdings hat nur der Beginn dieser Geschichte Bilderbuchcharakter. Hinter den glamourösen Kulissen der Musical-Welt verbirgt sich ein unglaublich harter Job. Wenn Dörte Niedermeier über ihren Beruf spricht, demontiert sie nach und nach jedes Tolle-Welt-Klischee über diese eigenwillige Künstlerszene. Aber eines verliert sie dabei nie: die Begeisterung für ihre Arbeit.

Sogar jetzt, zwei Stunden nachdem der letzte Vorhang in Wien gefallen ist. Es ist halb zwölf, als Dörte Niedermeier in einem Wiener Szenelokal mit zwei Kollegen eintrifft. Ausgehungert, ausgelaugt, aber immer noch voller Energie. Das Adrenalin in ihrem Blut, das jeden Bühnenmenschen beherrscht, lässt kein Durchatmen zu. Richtige Ruhe wird auch Dörte Niedermeier erst in ein paar Stunden finden.

Also spricht sie ohne Punkt und Komma über das Zeitrafferleben eines Musical-Darstellers. Über den Konkurrenzkampf, die Egoismen der Stars, die Wunden, das Geld. Und natürlich über „Cats“, weil es aus ihrer Sicht die Mutter aller Musicals ist. „Es ist das Goldstück“, wie sie sagt. Keine Show verlangt dem Darsteller mehr ab. Keine Produktion hat einen größeren Verschleiß an Menschen. „Man kommt bei ‚Cats‘ täglich an seine Grenzen. Es ist so herausfordernd“, sagt sie, „und die Wochenenden sind hammerhart.“ Die Rede ist von den Doppelvorstellungen, „die einen töten“.

Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht mit irgendeinem Schmerz in den Gliedern aufwacht. In der ersten Phase der Produktion verlieren manche Darsteller sogar bis zu acht Kilogramm Gewicht. Tanzen wird da zum Hochleistungssport auf der Bühne. Wenn sich die Katzen beim Jellicle-Ball zum großen Tanz versammeln, sind sie 14 Minuten ohne Pause in Aktion. Das entspricht ungefähr einer Belastung, die 5000 Meter in Weltrekordzeit zu laufen. Bühnenmanager Juan Escandell räumt daher sofort mit falschen Vorstellungen bei den Neulingen der Produktion auf: „Ich sage jedem am ersten Tag: ‚Cats‘ ist ein Lebensziel.“

Cats ist anspruchsvoll

Dörte Niedermeier kann nicht widersprechen. „Ich hatte schon viele Jobs“, sagt sie. Manchmal musste sie fast nur tanzen, manchmal fast nur singen. Sie spielte in „Honk“, sie sang in „Mamma Mia“ oder in „Hello Dolly“. Aber kein Job sei künstlerisch so anspruchsvoll. In keiner anderen Bühnenshow „wird deutlicher, welche Qualität ein Musical-Darsteller haben muss“.

Sie ist eine alles könnende Spezialistin.

Gelernt hat sie ihre Profession drei Jahre an der Tanz-Etage Maggie Hall-Donsbach in Bremerhaven. Den letzten Schliff holte sie sich auf der Insel im Laine Theatre Arts. Für 1000 Pfund Schulgeld im Jahr. Eine Investition in die Zukunft, die sich nicht immer lohnt. Denn die Musical-Engagements sind immer befristet. Dörte Niedermeier hat bei „Cats“ einen Zehn-Monats-Vertrag. Um so einen begehrten Job streiten sich mitunter 500 bis 1000 Bewerber im Casting. Die meisten gehen mit Tränen statt einem Engagement aus einem Casting.

Nicht zwangsläufig endet also der ganze Aufwand in Reichtum und Ruhm. „Als Musical-Darsteller verdient man gutes Geld“, sagt Dörte Niedermeier, „aber reich wird man leider nicht.“ Das tarifliche Einstiegsgehalt an einer städtischen Bühne liegt bei 1600 Euro brutto. Bei kommerziellen Produktionen fängt ein Darsteller im Schnitt bei 2600 Euro an. Für Hauptrollen gibt es mehr: zwischen 4000 und 5000 Euro im Monat. Für die absoluten Stars gelten freilich andere Gesetze.

Bei Cats herrscht Teamgeist

Aber dazu muss man geboren sein. Niedermeier hätte vielleicht das Zeug zum Star. Aber es passt nicht zu ihrem Charakter. Sie ist keine Diva. In dieser Produktion kann sie mühelos in sechs verschiedene Rollen schlüpfen. „Ich brauche keine große Hauptrolle. Das überlasse ich gerne denen, die ein besonders großes Ego haben“, sagt sie. Außerdem würden solche Typen nicht zu „Cats“ passen. „In dieser Produktion muss Teamgeist herrschen. Hier braucht man alle Katzen. Man sitzt eng aufeinander und ist gegenseitig aufeinander angewiesen“, erklärt Niedermeier. Egomanen und Diven hätten bei „Cats“ keine Chance beim Casting: „So jemand würde das ganze Gleichgewicht der Truppe aus der Balance bringen.“

All das sind ungeschminkte Wahrheiten über Musical-Darsteller, die das Publikum immer nur strahlen sieht. Doch wie viel Anstrengung, wie viel Schmerzen und Entbehrungen die Menschen hinter den perfekt geschminkten Katzengesichtern auf sich nehmen, ahnt kaum einer.

Manchmal ist es ein echtes Hundeleben. Der Job als Katze geht im Wortsinn unter die Haut. „Schöner wird man durch das viele Schminken bei ‚Cats‘ definitiv nicht“, sagt Dörte Niedermeier und lacht. Wahrscheinlich, weil sie eine gewisse Widersprüchlichkeit in ihren Worten entdeckt. Einerseits hat sie an diesem Abend in Wien ihren Beruf entzaubert. Andererseits wird so noch deutlicher: Wer all das auf sich nimmt und dennoch mit niemandem auf der Welt tauschen will, der lebt seine Liebe. Die kindliche Faszination für den Beruf und dieses Musical geht offenbar nie verloren. Bilderbuchhaft gesprochen: „Cats“ ist ein Lebensziel.