Der VfB Stuttgart muss sich damit beschäftigen, wie er den Ausfall des in U-Haft sitzenden Spielers kompensiert. Das eröffnet zwei Talenten eine Chance – aber nicht nur ihnen.
Nein, Sven Mislintat mag in diesen Tagen am liebsten gar nicht über Atakan Karazor sprechen. Und schon gar nicht darüber, wie der VfB Stuttgart den Mittelfeldspieler zu ersetzen gedenkt. Denn, so fürchtet der Sportdirektor, das könnte in der Öffentlichkeit als eine „halbe Vorverurteilung“ interpretiert werden. Beim Fußball-Bundesligisten gilt jedoch im Fall des 25-Jährigen, der sich auf Ibiza dem Vorwurf ausgesetzt sieht, eine junge Spanierin vergewaltigt zu haben, die Unschuldsvermutung. Zudem hegen die Verantwortlichen an der Mercedesstraße die Hoffnung, dass sich die Angelegenheit in absehbarer Zeit klärt.
Doch seit drei Wochen sitzt Karazor auf der Baleareninsel in Untersuchungshaft. Die Ermittlungen laufen – und jenseits aller juristischen und arbeitsrechtlichen Fragen muss sich der VfB schon jetzt damit auseinandersetzen, wie er den Ausfall des Defensivspezialisten sportlich auffangen will. Denn selbst wenn Karazor rasch auf freien Fuß käme, hat er im Gefängnis an Form und Leistungsfähigkeit verloren.
Verpflichtet der VfB einen Ersatz?
Der Trainingsrückstand müsste zunächst einmal aufgeholt werden. Deshalb betrachtet Mislintat die Personalie vorübergehend so, als wäre Karazor verletzt. „Und wäre er verletzt, würden wir das intern lösen“, sagt der Sportdirektor. Zum einen ist das ein Signal an den inhaftierten Spieler, der erst kürzlich seinen Vertrag in Stuttgart bis 2026 verlängert hat. Zum anderen gibt es zwei Alternativen im Kader, die sich in den Vordergrund rücken können.
Nikolas Nartey und Naouirou Ahamada – ein 22-jähriger Däne und ein 20-jähriger Franzose, denen beide reichlich Potenzial bescheinigt wird, die aber nicht nur in ihrer Spielweise sehr unterschiedlich sind. „Nikolas Nartey kann auf der Sechserposition spielen, und Naouirou Ahamada kann zumindest auf der Doppelsechs spielen“, sagt Mislintat. Zuletzt haben die beiden Mittelfeldakteure aufgrund von Verletzungen jedoch gar keine Einsatzzeiten erhalten.
Nun ist das Duo in der Vorbereitung gefordert, den Trainer Pellegrino Matarazzo von seinen Qualitäten zu überzeugen. Nartey ist dabei körperlich und mental mit dem robusteren Mandat ausgestattet. Der U-21-Nationalspieler hat es über die dritte und zweite Liga bis in die Beletage des deutschen Fußballs geschafft. Auf sieben Bundesliga-Einsätze (vier von Anfang an) kam er in der vergangenen Saison, und als Nartey sich anschickte, noch mehr Konkurrenzdruck auf die etablierten Kräfte auszuüben, musste er sich einer Knieoperation unterziehen. Die Verletzung ist auskuriert, ebenso wie Ahamadas viele Blessuren, die ihn haben fast die ganze Vorsaison verpassen lassen. Lediglich drei Kurzeinsätze stehen in der Statistik. Im Jahr zuvor waren es sechs. Dennoch haben sich diverse Szenen des Talents eingeprägt: eine schnelle Rote Karte in Leipzig und Harakiri-Aktionen. Das Spiel mit Ahamada birgt ein Risiko – negativ wie positiv betrachtet. Der Juniorennationalspieler muss lernen, seine Härte zu kontrollieren, und er muss sich seiner defensiven Verantwortung bewusst werden.
Wie viele Alternativen gibt es wirklich?
Allerdings ist auch zu sehen, dass Ahamada über das auffälligere und feinere Spiel als Nartey verfügt. Furchtlos tritt Ahamada auf, fokussiert Nartey. Beide Profis sind mit ihren Fähigkeiten jedoch nicht auf die Zentrale vor der Abwehr fixiert. Dort also, wo Karazor zum Ende der abgelaufenen Rückrunde mit seiner Zweikampfstärke und seinem Laufvermögen die Räume schloss, um nach Ballverlusten gegnerische Konter zu unterbinden.
Lange war das eine Schwachstelle in der VfB-Elf. Karazor brachte die vermisste Stabilität schließlich ins Stuttgarter Spiel – und ermöglichte Wataru Endo mehr Offensivaktionen. Der Japaner ist auch der beste Grund, warum der VfB ohne Karazor auf dem Feld keinen Notfallplan benötigt. „Wataru geht voran“, sagt Matarazzo. Ob als Torschütze, der eine verkorkste Saison in letzter Sekunde rettet, oder als stiller Kapitän auf dem Platz, der seine Leistung abruft, wo immer es das Team benötigt. Auch er kann wieder im zentralen defensiven Mittelfeld spielen, alleine oder in einer Formation mit Doppelsechs.
Mit Orel Mangala bildete Endo ja im ersten Jahr nach dem Aufstieg ein starkes Tandem im Herzen des Spiels. Und noch immer zählt Mangala trotz aller Wechselgerüchte zur Mannschaft. Dazu gibt es Enzo Millot – ein talentierter Techniker, der flexibel im Mittelfeld einsetzbar ist. „Wir haben noch ein paar Topjungs da“, sagt Mislintat über die personellen Möglichkeiten im Mittelfeld.
Lilian Egloff zum Beispiel oder Ömer Beyaz und Laurin Ulrich aufseiten der Begabten. Sie sollen in den nächsten Wochen ihre Chance suchen. Ebenso wie Philipp Klement bei den erfahrenen Spieler. „Diesbezüglich sind wir ruhig“, sagt Mislintat über die augenblickliche Auswahl im Mittelfeld. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass alle Genannten zum Ende der Transferzeit noch zum VfB-Kader gehören. Und wann Karazor wieder eine sportliche Rolle einnehmen kann, bleibt offen.