Projektionen beschwören in den Tagungsräumen die magische Stimmung der Unterwasserwelt herauf. Foto: /imago/Darryl Dyck

Bis 2030 sollen riesige Flächen der Ozeane zu Schutzgebieten werden – eine Konferenz in Vancouver sucht dafür den Weg.

Ruhig gleitet das Schiff in den Howe Sound an der Pazifikküste bei Vancouver. Dieses landschaftliche Juwel war im September 2021 von der Unesco zum Biosphärenreservat mit dem für Europäer ungewohnten Namen Átl’ka7tsem/Howe Sound erklärt worden. Átl’ka7tsem nennen die hier lebenden indigenen Squamish den 42 Kilometer langen Sund, was so viel heißt wie: „nach Norden paddeln“. Vancouver und der Howe Sound sind das Territorium der Squamish-, der Musqueam und der Tsleil-Waututh-Ethnien. In Kanada werden sie und andere Ureinwohner als First Nations bezeichnet.

Mehr als 2000 Quadratkilometer groß ist das Biosphärenreservat. Nur 16 Prozent sind Wasserfläche. Geschützt wird es nicht nur wegen der landschaftlichen Schönheit. Anerkannt wurde auch, dass es gelungen war, die industrielle Verschmutzung abzubauen. Eine Kupfermine hatte bis 1974 die Gewässer mit Schwermetallen verseucht. Sie wurde geschlossen.

„Ozean, Fluss, Wälder, Tier und Pflanzen, alles gehört zusammen“

Joyce Williams von der Squamish Nation ist Co-Vorsitzende des Gremiums, das das Biosphärenreservat managt. Sie ist an Bord des Schiffs, das Teilnehmer der Meeresschutzkonferenz in den Howe Sound bringt. „Diese Wasserwege waren unsere Highways“, sagt sie. „Wir paddelten auf und ab, wir folgten unserer Ressourcen, den Fischen. Hier leben wir seit Menschengedenken.“ Ihr Neffe Jonathan ergänzt: „Das ist der Ort, an dem wir leben und den wir lieben, von dem unsere Werte kommen. Ozean, Fluss, Wälder, Tier und Pflanzen, alles gehört zusammen.“

Die Staatengemeinschaft hat ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Um das Artensterben zu stoppen und Biodiversität zu erhalten, soll bis 2030 jeweils knapp ein Drittel der globalen Land- und der Wasserfläche unter Schutz gestellt werden. Nun muss dieser Beschluss umgesetzt werden. Die Konferenz in Vancouver will der Ausweisung von Schutzzonen in den Ozeanen weiter Schwung geben.

Rund 4000 Teilnehmer aus mehr als 120 Ländern bei der Konferenz

Vor sechs Wochen hatte die Weltnaturkonferenz von Montreal beschlossen, mindestens 30 Prozent der Meeres- und Küstenfläche bis 2030 unter Schutz zu stellen. Dies gibt dem „Internationalen Meeresschutz-Kongress“ in Vancouver, kurz IMPAC5 genannt, nach Einschätzung von Fachleuten eine wegweisende Bedeutung. „Das Ziel, 30 Prozent bis 2030 zu erreichen, motiviert, aber wir müssen uns fragen: Wie erreichen wir das denn?“ sagt Martin Sommerkorn vom WWF Arktis-Programm. „Wir spüren viel Energie beim Meeresschutz. Wir müssen das Momentum nutzen“, urteilt Boris Worm, Professor für Meeresbiologie an der Dalhousie-Universität in Halifax.

Rund 4000 Teilnehmer aus mehr als 120 Ländern sind zur an diesem Freitag endenden IMPAC5 gekommen. Die Aufgabe, knapp ein Drittel der Land- und Wasserfläche zu schützen, ist monumental. Gegenwärtig stehen weniger als zehn Prozent der Weltmeere unter Schutz. Rund 360 Millionen Quadratkilometer groß ist die Ozeanfläche. 30 Prozent bedeutet, dass rund 110 Millionen Quadratkilometer geschützt werden müssen, rechnet Aulani Wilhelm vor, Vizepräsidentin bei Conservation International. Sie ist in der US-Regierung an der Ausgestaltung der US-Naturschutzpolitik beteiligt. Derzeit aber sind es weniger als 30 Millionen. „Wir müssen eine Lücke von etwa 80 Millionen Quadratkilometern schließen“, sagt die Frau aus Hawaii, die maßgeblich an der Schaffung des Papahānaumokuākea Marine National Monument in Hawaii beteiligt war. Mit 1,5 Millionen Quadratkilometern ist es eines der größten Meeresschutzgebiete.

Seegrasflächen und Algenwälder wachsen wieder

„Die Ozeane sind das System, das unser Leben erhält“, sagt Sylvia Earle. Die 87 Jahre alte Frau, die die erste Chefwissenschaftlerin der US-amerikanischen Behörde National Oceanic and Atmospheric Administration war, gilt als Legende unter den Meeresfachleuten. 30 Prozent seien gut, aber sie wolle mehr. Denn der Ozean, das blaue Herz des Planeten, reguliert das Klima, absorbiert Kohlendioxid und Wärme und produziert Sauerstoff. Er ist Lebensraum für Tier- und Pflanzenarten und liefert Lebensmittel für die Menschen.

Rund um den Erdball werden nun Meeresgebiete, die besonders wichtig und repräsentativ für maritimes Leben sind, als „marine protected areas“ (MPA) unter Schutz gestellt. Der 1975 geschaffene „Great Barrier Reef Marine Park“ in Australien war mit 344 000 Quadratkilometer Fläche das erste wirklich große Meeresschutzgebiet. „Vor 20 oder 30 Jahren wussten wir noch nicht viel darüber, was in den Schutzzonen passiert. Heute wissen wir: Die Erneuerungskraft der Meere ist erheblich“, sagt Meeresbiologe Worm. Seegrasflächen und Algenwälder wachsen wieder. Fischbestände erholen sich, auch in angrenzenden Meeresgebieten. Schutzzonen stabilisieren die Biodiversität des Ozeans und sichern der lokalen Bevölkerung Einnahmen aus nachhaltigem Fischfang und Tourismus.

„Wir können unser 30-Prozent-Ziel ohne die indigenen Völker nicht erreichen“

Das in Montreal verabschiedete Weltnaturabkommen enthält keine verbindlichen Kriterien für Meeresschutzgebiete. Neu erarbeitete Richtlinien unterscheiden zwischen mehreren Kategorien, von „voll geschützt“ bis „minimal geschützt“. Grundsätzlich gilt es als Minimum für die Anerkennung als Schutzgebiet, dass Öl- und Gasförderung, Abbau von Metallen und Mineralien und hoch industrialisierter, den Meeresboden zerstörender Fischfang wie Grundschleppnetzfischerei dort verboten sein muss. Es dürften keine „Papier-Parks“ entstehen, mahnten Redner, Parks, die auf Papier existieren aber keinen nennenswerten Schutz bieten. Rund 60 Prozent der Meere sind „Hohe See“. Sie liegen außerhalb der 200-Seemeilenzonen der Küstenstaaten und sind internationale Gewässer. Ein zusätzliches Abkommen soll auch den Schutz der Meere in internationalen Gewässern erleichtern.

Einig ist man sich, dass die indigenen Völker beim Schutz der Natur beteiligt werden müssen. Ihre Territorien gehören zu den artenreichsten Regionen der Welt. „Wir können unser 30-Prozent-Ziel ohne die indigenen Völker nicht erreichen“, sagt Joyce Murray, Kanadas Bundesministerin für Fischerei und Ozeane. Squamish, Musqueam und Tsleil-Waututh sind mit der Regierung Kanadas „Gastgeber-Nationen“ des Kongresses.

Vor mehr als 100 Jahren erste Nationalparks in Kanada

Kanada sucht die enge Kooperation mit indigenen Organisationen und strebt ein „Co-Management“ bei der Verwaltung der Schutzgebiete an. Als vor mehr als 100 Jahren die ersten Nationalparks in Kanada entstanden, wurden deren Grenzen an Schreibtischen ohne Berücksichtigung der Ureinwohnervölker festgelegt. Im Extremfall wurden sie vertrieben oder durften die neuen Schutzgebiete, die ihre Jagdgebiete waren, nicht mehr betreten. Heute wird „indigen geführter Naturschutz“ propagiert. First Nations, Inuit und Métis bestehen darauf, wenn ihre Gemeinden und ihr traditionelles Land berührt sind – und das ist in Kanada fast überall der Fall.

Für Joyce Williams von den Squamish bedeutet dieser Politikwandel, dass ihr Volk nun mitbestimmt und mitgestaltet: „Wir nehmen den Raum, in dem unsere Vorfahren lebten, wieder in Besitz.“