Ein Kind an einem Bildschirm „blickt passiv wie ein Zombie auf einen Gegenstand und ist abgestellt“, sagt der Stuttgarter Kinderarzt Özgür Dogan. Foto: Fotolia/Corepics

Der Bedarf an logopädischer Therapie steigt seit Jahren kontinuierlich an. Das hängt auch damit zusammen, dass Kinder immer mehr Zeit an Bildschirmen verbringen. Alles, was Eltern dazu wissen sollten.

Immer mehr Kinder und Jugendliche sind wegen Sprachentwicklungsstörungen in logopädischer Therapie. Laut einer aktuellen Datenauswertung der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) stieg die Zahl der Betroffenen zwischen sechs und 18 Jahren von 2012 bis 2022 um rund 59 Prozent.

 

Bundesweit sind in dieser Altersgruppe fast neun Prozent der Kinder und Jugendlichen in logopädischer Behandlung – fast jeder zehnte Junge und rund jedes 15. Mädchen. Am höchsten ist die Steigerungsrate im Zehn-Jahres-Vergleich bei den 15- bis 18-Jährigen mit fast 144 Prozent.

Die deutschlandweit erhobenen Daten der KKH decken sich mit denen, welche die AOK als größte gesetzliche Krankenkasse auf Nachfrage unserer Zeitung für Baden-Württemberg zusammengestellt hat. Auch sie zeigen einen kontinuierlichen Anstieg. 2018 waren 10,15 Prozent der bei der AOK versicherten Kinder und Jugendlichen (0 bis 19 Jahre) mindestens einmal im Jahr ambulant oder stationär in ärztlicher Behandlung. 2019 stieg die Zahl auf 10,60 Prozent, 2020 auf 10,92 Prozent und 2021 auf 11,45 Prozent. Im Jahr 2022 gab es einen leichten, coronabedingten Rückgang auf 10,83 Prozent. Denn während der Lockdowns blieben entsprechende Hinweise von Erziehern und Lehrern oft aus, und Familien versuchten, Arztbesuche zu vermeiden.

Die Zahlen sind bedenklich: „Sprache und Sprechen sind Grundpfeiler für die Entwicklung eines Kindes“, sagt Vijitha Sanjivkumar vom Kompetenzteam Medizin der KKH und ergänzt: „Denn Sprachkompetenz ist einer der Schlüssel, um Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle mitzuteilen, sich die Welt zu erschließen, sie zu verstehen und sozial mitzugestalten.“

Sprachdefizite können viele Gründe haben

Sprach- und Sprechstörungen können organische Ursachen haben wie zum Beispiel unentdeckte Hörstörungen oder anatomische Gründe wie einen fehlgebildeten Kiefer. Aber auch Ernährungs- und Schlafstörungen, Probleme in der Familie oder Schicksalsschläge können sich auf die Psyche eines Kindes auswirken und so die Sprachentwicklung beeinflussen.

„Sofern keine anderen medizinischen oder sozialen Erklärungsfaktoren vorliegen, gilt die Sprachentwicklungsstörung als eigenständiges Krankheitsbild. Die uns vorliegenden Zahlen zeigen das Diagnose- und Verordnungsverhalten; das kann sich über die Jahre auch verändern. Nicht selten werden bei den Verordnungen von Logopädie auch unspezifische Diagnosen angegeben“, erklärt ein Sprecher der AOK. Wichtig sei auch, zwischen Sprachentwicklungsstörung und sogenannten umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten zu unterscheiden.

Der Deutsche Bundesverband für Logopädie schreibt dazu auf seiner Internetseite: „Die meisten Kinder erwerben die deutsche Sprache ohne große Mühe.“ Doch bis zu ein Drittel eines Jahrgangs tue sich damit schwer. Wobei aber nur acht bis zwölf Prozent der Mädchen und Jungen von Sprachentwicklungsstörungen betroffen seien und eine gezielte logopädische Therapie brauchen. Die anderen Kinder würden „umgebungsbedingte Sprachauffälligkeiten“ aufweisen. Bei ihnen liege das Problem vor allem darin, dass der Umfang und die Qualität des Sprachangebotes nicht ausreichend seien. Diese Mädchen und Jungen könnten ihre Sprachentwicklung durchaus meistern, wenn sie in der Alltagskommunikation besser unterstützt werden würden.

In vielen Familien fehlen Anreize zum Sprechen

„In vielen Familien wird zu wenig mit dem Nachwuchs kommuniziert, selbst bei den Mahlzeiten nicht. Dadurch fehlen Sprachreize, die eine gesunde Entwicklung fördern“, so die KKH-Expertin Vijitha Sanjivkumar. Der Hauptgrund dafür sei oft die intensivere Nutzung von Smartphone, PC und anderen digitalen Medien, die an die Stelle direkter Kommunikation getreten sei.

Özgür Dogan sieht das ähnlich. Er hat eine Kinderarztpraxis an der Böblinger Straße und ist der Sprecher der Kinderärzte in Stuttgart. Sicherlich habe es einen Einfluss auf die Interaktion in einer Familie und die Entwicklung eines Kindes, wenn die stillende Mutter kaum noch Blickkontakt zu ihrem Säugling halte, weil sie mit dem Mobiltelefon beschäftigt sei, oder Kleinkinder vor Medien geparkt würden – sei es zur Beschäftigung, zur Bewusstseinseinschränkung beim Essen, zur Belohnung oder aus anderen Gründen. „Die zwischenmenschlichen Interaktionen bleiben so auf der Strecke. Auch muss das Kind nichts aktiv unternehmen. Es blickt passiv wie ein Zombie auf einen Gegenstand und ist abgestellt“, sagt Özgür Dogan.

Andreas Oberle ist Ärztlicher Direktor der Sozialpädiatrie am Klinikum Stuttgart. Foto: Klinikum Stuttgart

Die Coronapandemie habe in dieser Beziehung vieles verstärkt, sagt Andreas Oberle. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderneurologe, Systemischer Familientherapeut und Ärztlicher Direktor der Sozialpädiatrie am Klinikum Stuttgart. Dort werden pro Jahr insgesamt etwa 9000 Kinder vorstellig, sehr häufig wegen Auffälligkeiten bei der Sprachentwicklung. „Die Problematik gab es schon immer, aber die Zahlen steigen“, sagt Oberle. Während der Lockdowns seien viele Familien in Not und froh über die modernen Medien gewesen, weil viele alternative Möglichkeiten der Freizeitgestaltung nicht erlaubt gewesen seien. Zudem seien Kindergärten und Schulen geschlossen gewesen. „Die Möglichkeiten für Interaktion waren eingeschränkt“, sagt der Oberarzt.

Andreas Oberle betont aber auch, dass nicht jeder Sprachfehler gleich eine Entwicklungsverzögerung sei. „Dass Kinder in einem gewissen Alter Eddy statt Teddy sagen, ist völlig normal“, betont der Oberarzt. Wenn sich Eltern unsicher seien, sei es ratsam, einen Kinderarzt oder auch das Personal in der Kita um eine Einschätzung zu bitten. „Als Elternteil seiner Sorge Ausdruck zu verleihen ist völlig legitim“, findet der Oberarzt. Wenn es Auffälligkeiten bei der Sprachentwicklung gebe, gelte es im zweiten Schritt, die Ursache zu klären. Seien organische Gründe ausgeschlossen, könne eine logopädische Therapie infrage kommen. „Man muss aber nicht immer gleich die therapeutische Maximalvariante wählen“, sagt Oberle. Am wirkungsvollsten seien Therapien dann, wenn vor allem die Eltern, aber auch Kindergarten und Schule unterstützten. „Jeder hat da seine Aufgabe“, betont der Oberarzt. Auch mit bewussten Freizeitaktivitäten – wie zum Beispiel singen und lesen – könne viel bewirkt werden.

„Sprachförderung lässt sich gut in den Alltag integrieren und beginnt gleich nach der Geburt“, sagt auch der Sprecher der AOK. Schon bevor der Nachwuchs sprechen lerne, entwickle sich das Sprachverständnis. Deshalb sollten Eltern von Anfang an viel mit ihrem Nachwuchs kommunizieren. Wichtig sei dabei, sich dem Kind zuzuwenden und Blickkontakt zu halten. Fingerspiele, Klatschverse, Lieder und Bilderbücher seien ideale Fördermöglichkeiten. Auch beim gemeinsamen Bewegen auf dem Spielplatz oder in der Natur werde ganz automatisch der Wortschatz erweitert, weil ständig neue Anregungen dazukämen und sich draußen mit neuen Wörtern häufig auch Sinneseindrücke und Emotionen verbänden. Das bedeute aber auch, dass Eltern bei solchen Aktivitäten dem Kind ihre Aufmerksamkeit schenken sollten und nicht dem Smartphone.

Sprachprobleme und Mediennutzung

Studie
Studien wie zum Beispiel die Blikk-Studie (die Abkürzung steht für Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz, Kommunikation) von 2017 zeigen einen Zusammenhang zwischen der Nutzungsdauer elektronischer Medien und Sprachentwicklungsverzögerungen. So wurde zum Beispiel bei 16,1 Prozent der Kinder im Alter von 34 bis 36 Monaten, die täglich mehr als eine halbe Stunde fernsehen, eine diagnostizierte Sprachentwicklungsstörung festgestellt. Bei Kindern dieses Alters, die mehr als eine halbe Stunde täglich das Smartphone nutzten, waren es 17,9 Prozent. Bei Kindern im Alter zwischen 46 und 48 Monaten, die mehr als 30 Minuten täglich fernsehen, waren es 19,5 Prozent. Bei Kindern dieser Altersgruppe, die mehr als eine halbe Stunde fernsehen und zusätzlich noch mehr als eine halbe Stunde das Handy nutzen, wiesen 31,6 Prozent Sprachentwicklungsstörungen auf.

Konzept
Das Kultusministerium Baden-Württemberg will mit einem neuen Konzept Sprachprobleme von Kindern in Kitas und an Grundschulen angehen. Demnach soll es unter anderem vor der Einschulung einen Sprachtest geben. Daran soll sich dann bei Bedarf eine „verbindliche ergänzende Sprachförderung im Jahr vor der Einschulung anschließen“. In der Grundschule ist eine verbindliche ergänzende Sprachförderung ab Klasse 1 geplant. Das Kultusministerium stimmt das Konzept derzeit mit dem Finanzministerium ab.