Etwa 25 Meter lang ist der Schienenstrang quer durch die Markthalle Foto: Leif Piechowski

Gut 25 Meter lang ist der Schienenstrang, der von der Dorotheenstraße quer durch die Stuttgarter Markthalle verläuft und kurz vor dem Ausgang auf der anderen Seite abrupt abbricht. Was soll die Bahnstrecke, die aus dem Nichts kommt und im Nichts verschwindet?

Stuttgart - Gut 25 Meter lang ist der Schienenstrang, der von der Dorotheenstraße quer durch die Stuttgarter Markthalle verläuft und kurz vor dem Ausgang auf der anderen Seite abrupt abbricht. Was soll die Bahnstrecke, die aus dem Nichts kommt und im Nichts verschwindet? Markthallenkunde Hans-Peter Laidig aus Waiblingen zuckt mit den Schultern. „Vermutlich haben die Schienen dem Warentransport gedient“, sagt er. Der Mann liegt richtig: Noch bevor die Markthalle vor hundert Jahren eingeweiht wurde, sind die Schienen gelegt worden, damit die Beschicker ihre Ware direkt in die Markthalle transportieren konnten. „Die Gleise wurden aber vermutlich nicht in Betrieb genommen“, sagt Bahnexperte Gerhard Voss.

War das ganze also eine Fehlplanung? „Die rasante Entwicklung Anfang des vorigen Jahrhunderts hat die Planung überrollt“, stellt Voss fest. Der Bauingenieur betreut das Straßenbahnmuseum in Bad Cannstatt. Zusammen mit Tina Leibfarth, einer Stadtbahnfahrerin, hat er zum 100. Geburtstag der Markthalle die Geschichte der Gleise aus den wenigen vorhandenen Dokumenten rekonstruiert.

Im 19. Jahrhundert war der Verkauf von Obst, Gemüse, Eiern meist Sache der Frauen, da die Männer auf dem Feld arbeiteten. Der Transport der Ware vom Neckartal oder von den Fildern war für die Bäuerinnen beschwerlich. Sie mussten ihre zwei Meter langen und ein Meter breiten schwer beladenen Leiterwagen Kilometer weit zum Markt in die Stadt ziehen. Statt über Asphalt ging es über Schotterpisten. Und immer war ein Buckel im Weg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Stuttgart endlich die elektrische Straßenbahn, das Bahnnetz wurde ausgebaut. Seit 1910 fuhr die Straßenbahn auch nach Wangen und Hedelfingen. Und noch bevor es die Markthalle an der Dorotheenstraße gab, entschlossen sich die Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) zwischen Wangen und dem Karlsplatz einen Marktverkehr zum Warentransport einzuführen. Erst wurden Hedelfingen, dann Zuffenhausen, Esslingen und 1914 Botnang angeschlossen. Die Filderorte wurden mit der Filderbahn angefahren.

„Die SSB setzten einen Triebwagen mit Platz für etwa 20 Personen ein. Angehängt waren zwei geschlossene Güterwagen mit zwei Etagen für Körbe oder andere Behälter für Obst, Kartoffeln und Gemüse“, sagt Voss. Ideal war das für die Bäuerinnen allerdings nicht. Denn sie mussten ihre Leiterwagen zu Hause lassen. Die brauchten sie aber, um mit der Ware, die sie auf dem Markt nicht losgeworden waren, von Haus zu Haus zu ziehen und sie den Städtern direkt anzubieten. Die Bauern forderten deshalb von der SSB, solche Wagen einzusetzen, mit denen die Leiterwagen samt Ware transportiert werden konnten. Die SSB ließ daraufhin 14 neue Wagen bauen: so genannte Plattformwagen mit Ladeklappe, auf denen die Leiterwagen hochgeschoben und runter gerollt werden konnten. An die Triebwagen wurden nun statt zwei bis zu vier Marktwagen angehängt. Und da der Marktwagenverkehr enorm zunahm, pendelten die Bahnen von zwei Uhr morgens an bis zum Marktbeginn um 6.30 Uhr ununterbrochen zwischen den Vororten und der Goerdelerstraße beim Karlsplatz hin und her.

Ende Januar 1914 wurde schließlich die neue Markthalle an der Dorotheenstraße eingeweiht. Die Gleise, die sie durchqueren, waren bereits etwa zwei Jahre zuvor gelegt worden. Voss vermutet, dass die Gleise nicht nur nie befahren worden sind, sondern auch gar nicht ans Schienennetz angeschlossen waren. Ursprünglich sollten in die Markthalle jene Wagen einfahren, mit denen die Körbe transportiert wurden“, sagt er. Mittlerweile waren aber die Plattformwagen in Betrieb. Voss: „Es hätte ein heilloses Durcheinander gegeben, wenn alle Beschicker in der Markthalle ihre Leiterwagen abgeladen hätten. Und von der Goerdelerstraße aus konnten sie die Leiterwagen ja bequem bis zur Halle ziehen.“

Enorm zugenommen hat der Marktverkehr während des Ersten Weltkriegs, weil es keine Alternative gab: Die Pferdegespanne waren beschlagnahmt, um Geschütze zu ziehen. Außerdem wurden die Marktwagen auch für den Transport der verwundeten Soldaten benutzt, die auf die Lazarette in der Stadt verteilt wurden, nachdem sie mit der Eisenbahn vom Fronteinsatz zurückgekommen waren. Auch im Zweiten Weltkrieg ging es nicht ohne die Marktwagen. Denn nun wurden die Kraftfahrzeuge für militärische Zwecke beschlagnahmt oder aber es war kein Sprit für sie aufzutreiben.

Nach 1945 änderte sich die Situation schlagartig: Fahrzeuge und Kraftstoff waren wieder zu bekommen. Viele Beschicker leisteten sich Pritschenwagen für den Transport ihrer Ware. Dadurch waren sie unabhängig von den Fahrplänen und vertrödelten nicht so viel Zeit beim Warten auf die Straßenbahn. Eine Entwicklung, die die SSB nicht sonderlich bedauerten: Denn die Güterzüge waren mit Tempo 25 bis 30 extrem langsam auf der Schiene unterwegs und bremsten den Personenverkehr aus. 1955 fuhr der letzte Marktwagen zur Markthalle. Die Wagen wurden in den nächsten Jahren als Güterwagen für den internen Verkehr der SSB genutzt. 1965 wurden die Wagen verschrottet – bis auf einen. Der ist im Straßenbahnmuseum im Veielbrunnenweg 3 in Bad Cannstatt ausgestellt. Dort ist er jeden Mittwoch, Donnerstag und Sonntag jeweils von 10 bis 17 Uhr zu bestaunen.