„Ich glaube, dass Glaube dem Leben eine andere Dimension gibt, wenn ich mich vor Gott verantworte“ – Margot Käßmann, evangelische Theologin. Foto: dpa

Die frühere EKD-Ratsvorsitzende, Bestsellerautorin und „Lutherbotschafterin“ Margot Käßmann im Gespräch über Glaube heute, Lebenskrisen und dreiste Verlage.

Stuttgart – Frau Käßmann, welche Erinnerungen werden bei Ihnen wach, wenn Sie an den Stuttgarter Kirchentag von 1999 denken?
Ich habe sehr positive Erinnerungen. Aber ich weiß noch, dass die Vorbereitungen interessant waren, weil es 30 Jahre lang keinen Kirchentag in Stuttgart gegeben hatte.
Inwiefern interessant?
Die Erinnerungen an 1969 kamen wieder hoch. Damals hatte es heftige Auseinandersetzungen um Bibelinterpretationen gegeben. Es war für uns alle dann 30 Jahre später eine große Freude, dass Stuttgart eingeladen hatte. Wir mussten den Termin einmal schieben, weil der Leipziger Kirchentag, der erste im Osten nach der Wende, dazukam. Und dann gab es die Hoffnung, dass Stuttgart 1999 die Wunden der theologischen Streitigkeiten von 1969 heilen könnte.
Und hat es das?
Das hat es offensichtlich, sonst würde jetzt nicht 2015 der Kirchentag in Stuttgart stattfinden. Symbolisch habe ich den Salzberg von damals auf dem Schlossplatz besonders in Erinnerung.
Brauchen die Menschen heute noch Gott?
Als Christin glaube ich, dass Gott existiert. Das Erste ist ja nicht, dass ich Gott brauche. Zudem kann ich immer nur aus meinem persönlichen Leben sagen, dass der Glaube an Gott mir Halt gibt in meinem Leben und in einer Gemeinschaft, in der ich mich beheimatet fühle.
Was heißt für Sie Glauben?
Zuerst Gottvertrauen. Ich vertraue darauf, dass Gott existiert und meinem Leben Wert und Sinn gibt. Und dass ich Gott als Christin erkenne in dem, was Jesus gesagt hat: Gott ist wie ein liebender Vater, der seinen Sohn wieder aufnimmt, der in die Irre gegangen ist. Oder wie ein Weingartenbesitzer, der jedem nahe sein will, der ihn braucht. Das bewegt mich. Ich glaube auch, dass Glaube dem Leben eine andere Dimension gibt, wenn ich mich vor Gott verantworte.
Für Biologen ist Gott eine „List der Gene“. Hirnforscher sehen in ihm das Produkt neuronaler Reize. Ist Gott nur ein Hirngespinst?
Für mich ist das keine Option. So wenig wie ich die Existenz Gottes beweisen kann oder je ein Philosoph oder Theologe dies konnte, so wenig können Neurologen und Genetiker beweisen, dass es Gott nicht gibt. Gott ist kein Beweisgegenstand. Der Glaube vertraut darauf, dass Gott existiert.
Geht das: Glauben ohne Gemeinschaft?
Die Evangelischen sagen: Die Kirche ist kein Heilsmittel. Ich kann und soll eine persönliche Gottesbeziehung haben. Aber für mich ist das Christentum dezidiert eine Gemeinschaftsreligion. Schon Jesus hat die Tischgemeinschaft zum Symbol gemacht. Von Anfang an ist er mit Frauen und Männern gemeinsam durch Israel gezogen. Nach seinem Tod haben sich seine Anhänger zusammengetan, sind erst in Angst zusammengeblieben und dann in großer Hoffnung. Gemeinden gab es von Anfang an. Sie sind ein Kennzeichen christlicher Existenz.
Bei seinem letzten Deutschlandbesuch im August 2014 sagte der Dalai Lama: „Manchmal denke ich, es wäre besser, es gäbe keine Religion.“ Stimmen Sie dem zu?
Nein! Ich verstehe zwar seine Intention. Menschen werfen den Religionen vor, dass sie Konflikte schüren. Die Erfahrung ist aber auch, dass Glaube Menschen motiviert, viel zum Frieden in der Welt beizutragen. Im Christentum ist der Impuls der Nächstenliebe, dass ich mitverantwortlich dafür bin wie es anderen geht, von ganz entscheidender Bedeutung.
Wie beurteilen Sie die Abkehr von den Kirchen und den Trend zur Individualisierung?
Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Menschen sich immer stärker individualisieren. Sie werden dadurch aber nicht glücklicher. Die glücklichsten Menschen sind diejenigen – das haben Soziologen nachgewiesen –, die sich für andere engagieren. Die ständige Egomanie macht nicht unbedingt zufrieden, sondern lässt Menschen oft sehr stark vereinsamen und auf sich selbst zurückgeworfen sein. Ich bin als Christin ja nicht nur Teil einer Gemeinschaft im Hier und Jetzt, sondern einer Gemeinschaft rund um die Welt und durch die Jahrhunderte. Wenn ich keine eigenen Worte mehr habe, kann ich mich fallen lassen in die Worte anderer, die in der kirchlichen Tradition Wert haben.
Ist die Moderne eine glaubenslose Zeit, oder erleben wir vielmehr einen Glaubensaufbruch, der enorm produktiv ist?
Ich denke, es ist eine höchst produktive Zeit, insofern die Menschen über den Glauben nachdenken. Es war früher selbstverständlich, dass jemand Mitglied der Kirche war, dass man das Vaterunser und die Psalmen betet und die biblischen Geschichten kennt. Diese Selbstverständlichkeit ist verloren gegangen. Der Einzelne muss viel mehr ringen, wie er seinem Leben Sinn gibt, wo er beheimatet ist und Halt findet. Die Herausforderung zu glauben ist heute viel größer.
Die Menschen sollen ihrer Meinung nach über ihren Glauben nachdenken und zweifeln?
Mir ist das ungeheuer wichtig. Martin Luther hat immer gesagt: Er will gebildeten Glauben. Die Leute sollen selbst denken, reflektieren, Fragen stellen. Das ist natürlich schwieriger, als das nur anzunehmen, was mir vorgegeben wird. Aber es macht auch mehr Spaß und ist anregender.
Kann man Gottes Existenz verleugnen und trotzdem ein gläubiger Mensch sein?
Das fragen Sie die Falsche. Ich erlebe Menschen, die mir sagen: Ich möchte gerne glauben, aber ich kann nicht. Ich stelle Fragen. Wer anfängt zu fragen, ist schon im Gespräch mit Gott.
Was macht das spezifische Religiöse aus?
Für mich gehört zum Religiösen, dass ich glaube, dass diese Welt, die wir sehen und begreifen, bei weitem nicht alles ist, was existiert. Das wäre im weitesten Sinne das, was mit Transzendenz gemeint ist.
Hoffnung also, die über die Welt hinausweist?
Der evangelische Theologe Heinz Zahrnt hat einmal gesagt: Wenn die Frage nach dem Tod von einem menschlichen Rätsel zu einem göttlichen Geheimnis wird, dann sind wir ein großes Stück weiter. Mit diesem Geheimnis kann ich leben, wenn ich Vertrauen habe. Das leuchtete mir sehr ein .
Was ist für Sie so heilsam am Glauben?
Für mich ist das Heilsame nicht die Vertröstung und Betäubung – nach dem Motto „Glaube ist Opium des Volkes“. Sondern dass ich gerade im christlichen Glauben begreifen kann, dass es Leid gibt. Aber auch dass ich dieses Leid bei Gott aufgehoben wissen kann. Dass ich dieses Leid beklagen kann, weil Gott selbst Leid kennt. Das ist für mich das Wichtigste am Kreuz.
Und dieser Glaube trägt auch im Hospiz?
Ja! Ich habe Hospize als wunderbare Orte erlebt. Wir haben dort Sommerfeste mit Angehörigen von Verstorbenen, mit Sterbenden und Mitarbeitern gefeiert. In der Diakonie sind die höchste Zufriedenheit der Mitarbeiter und die geringste Fluktuation in Hospizen: Hier ist erlebbar, dass unser Glaube auch das Sterben, den Tod, die Trauer und den Abschied mitträgt.
Weil es eine Hoffnung gibt, die Menschen auch ohne Gottesbeweise felsenfest trägt?
Weil die Hoffnung da ist. Aber auch weil klar ist, dass der Mensch auch im Sterben seine Würde hat, er Zeit braucht und liebevolle Betreuung. Dass Sterben Teil des Lebens ist.
Wie beurteilen Sie den um sich greifenden Glaubens-Fundamentalismus?
Ich erlebe manchmal – weniger in Deutschland als in den USA – eine scharfe Abgrenzung, die schnell fundamentalistische Züge annehmen kann. Das finde ich besorgniserregend. Der Protestantismus legt Wert auf eigenes Fragen und Denken. Fundamentalismus mag keine Fragen, kein Infragestellen. Aber die Kreativität des Glaubens entsteht immer da, wo ich auch meine Zweifel äußern und meine Fragen stellen darf. Glaube, der sich einmauert in angeblich festgezurrte Wahrheiten, ist sehr angstbesetzt.
Reicht Mitmenschlichkeit aus, um zu glauben?
Der kirchliche Glaube kann die Sache mit Gott nicht außen vor lassen. Es geht nicht nur um Humanismus, der sich aus dem Gebot der Nächstenliebe ergibt. Für mich ist christlicher Glaube an Jesus von Nazareth und an Gott gebunden. Gott auszuklammern wäre für mich kein Weg.
 
Zur Person: Margot Käßmann
 

1958 geboren

1977–1983 Studium der Evangelischen Theologie

1983–1990 Vikarin und Pfarrerin

1989 Promotion

1994–1999 Generalsekretärin des Kirchentages

1999–2010 Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers

2009–2010 Vorsitzende des Rates der EKD

Seit 2012 „Lutherbotschafterin“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Geschieden, vier erwachsene Töchter