Welche Auswirkungen hat die Verleihung des Nobelpreises auf die Literatur? Darüber haben Fachleute drei Tage lang auf Einladung des Deutschen Literaturarchivs diskutiert.
Marbach Am Neckar - Im Jahr 1896 fanden in Athen die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit statt, 1901 wurde in Stockholm zum ersten Mal der Nobelpreis für Literatur verliehen. Gibt es da einen Zusammenhang? Ja – zumindest wenn man den Teilnehmern eines internationalen Symposions glauben darf, das letzte Woche vom Deutschen Literaturarchiv Marbach zusammen mit der Schwedischen Akademie und den Universitäten Bielefeld und Linköping veranstaltet wurde. Wegen der Coronapandemie fand es freilich nur online statt.
Unter dem Titel „Literatur in der Nobelpreisära“ beschäftigten sich Literaturwissenschaftler und Kultursoziologen drei Tage lang mit der Frage, wie dieser „Preis aller Preise“ seit 1901 die Rezeption von Literatur beeinflusst und verändert hat, welche Auswirkungen er auf Schriftsteller, Verlage, Übersetzer, Journalisten, die akademische Literaturwissenschaft und nicht zuletzt auf das lesende Publikum hatte.
Verlage verdienen an Preisträgern
Von den Olympischen Spielen her kennt man den Medaillenspiegel, der auflistet, welche Nationen am besten abgeschnitten haben. „Auch für den Literaturnobelpreis gibt es solche Listen“, sagte Carlos Spoerhase, Professor für Germanistik an der Universität Bielefeld, in dem Symposium. Er deutete dies als Zeichen dafür, dass durch den Nobelpreis ein globales „literarisches Feld“ etabliert wurde, auf dem es um die Verteilung von Prestige und um sogenannte Soft Power geht. Der Begriff „literarisches Feld“ stammt aus der Kultursoziologie von Pierre Bourdieu, der sich neben Niklas Luhmann als wichtigster Stichwortgeber für die auf dem Symposion vorgetragenen Analysen herausstellte. Auf diesem literarischen Feld werde „symbolisches Kapital“ erworben, das sich dann sehr schnell auch in ökonomisches Kapital verwandeln lasse, das Buchverlage, Medien und die gesamte Kulturindustrie mit dem jeweiligen Preisträger erwirtschaften.
Der Literaturnobelpreis zeugt also von der Globalisierung der Literatur. Aber spiegelt sich diese Globalisierung auch in der Liste der Preisträger und Sprachen wider, die seit 120 Jahren ausgezeichnet wurden? Gisèle Sapiro, Professorin für Soziologie in Paris, zog eine ernüchternde Bilanz, was Herkunft und Geschlecht der Ausgezeichneten angeht. Bei den Sprachen der seit 1901 erwählten 117 Autoren dominiert das Englische, gefolgt von Französisch und Deutsch. Insgesamt sind nur 25 Sprachen vertreten. Im Geschlechterverhältnis stehen lediglich 16 Autorinnen 101 Autoren gegenüber. Erst seit etwa 30 Jahren versuche die Schwedische Akademie, diese Dominanz von weißen westlichen Männern in der Preisträgerliste aufzubrechen und etwas mehr Diversität herzustellen, so Sapiro. Die Wahrscheinlichkeit, dass Autorinnen und Autoren, die in einer kleinen Sprache schreiben, von der Jury überhaupt wahrgenommen werden, hänge aber häufig davon ab, ob ihre Bücher zuvor ins Englische übersetzt und von den großen New Yorker Verlagen publiziert wurden.
Da stellt sich die Frage, warum der Nobelpreis trotz dieser Befunde immer noch ein so hohes Prestige hat. So hoch, dass Schriftsteller, Buchverlage, Journalisten und Leser Anfang Oktober jedes Jahr aufs Neue den Orakelspruch der Schwedischen Akademie so gespannt erwarten wie die Gläubigen bei einer Papstwahl den weißen Rauch aus der Sixtinischen Kapelle. Selbst die Skandale der jüngsten Zeit in der Schwedischen Akademie und die umstrittenen Entscheidungen der letzten Jahre, etwa die Preisverleihung 2016 an den US-amerikanischen Singer-Songwriter Bob Dylan und 2019 an den österreichischen Schriftsteller Peter Handke, konnten das Prestige des Preises offenbar nicht beschädigen. Fabien Accominotti, Soziologe an der University of Madison/Wisconsin, vermutet darin eine Art zivilreligiöser Heiligsprechung, auf die offenbar auch säkulare Gesellschaften nicht ganz verzichten wollen.
Der Preis ist anfechtbar
Dennoch waren sich die Teilnehmer des Symposions darin einig, dass der Nobelpreis für Literatur anfechtbarer ist als etwa die Preise für Medizin, Physik und Chemie, weil, wie schon der Philosoph Immanuel Kant wusste, ästhetische Urteile weniger zwingend sind als wissenschaftliche Urteile. Pieter Vermeulen, Literaturwissenschaftler an der Universität Leuven/Belgien, hat beobachtet, dass sich die Begründungen der Jury für ihre Entscheidung im Lauf der Jahre verschoben haben. Und zwar von Kategorien wie Schönheit, Noblesse und sprachliche Meisterschaft zu Kriterien wie moralische Zeugenschaft, etwa im Fall von Swetlana Alexijewitsch, der Preisträgerin von 2015. Nur das kann die aufgeregte Debatte um Handke im vergangenen Jahr erklären, dessen Werk sich diesem Kriterium der moralischen Ernsthaftigkeit zu entziehen scheint.
Und was meint Herta Müller, die Preisträgerin von 2009, die in Marbach ihr neues Buch „Der Beamte sagte“ vorstellte, zur Ehre und Last, eine Nobelpreisträgerin zu sein? Ja, sie habe sich darüber gefreut: „Da wird einem eine Aura verliehen, ob man will oder nicht“, so die deutsche Schriftstellerin mit rumänischen Wurzeln. Ihr Schreiben habe sich dadurch aber nicht geändert.
Info
Preis
Der Nobelpreis für Literatur ist einer von fünf Preisen, die der schwedische Industrielle Alfred Nobel in seinem Testament 1895 gestiftet hat, und wird seit 1901 jährlich im Herbst an einen Schriftsteller verliehen, der laut Wunsch seines Stifters „das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat“. Zuständig für die Wahl des Preisträgers oder der Preisträgerin ist die 1786 gegründete Schwedische Akademie in Stockholm. Ausgezeichnet wurden in den letzten Jahren Olga Tokarczuk (2018), Peter Handke (2019) und Louise Glück (2020).
Skandal
Der Preis für 2018 wurde erst ein Jahr später nachträglich verliehen, weil die Schwedische Akademie durch einen Sexskandal in ihren Reihen erschüttert wurde, in dessen Folge acht von achtzehn Akademiemitgliedern zurücktraten, so dass das Gremium eine Zeit lang nicht mehr beschlussfähig war.