Vollverschleierung für Frauen ist ein Kennzeichen der Taliban-Herrschaft. Foto: AFP/Joel Robine

Was kommt nach der Machtübernahme der Taliban auf die Menschen in Afghanistan zu? Was wollen die Extremisten? Ein Überblick.

Stuttgart - Während sich am Flughafen in Kabul chaotische Szenen abspielen, haben sich die Taliban bereits zum Sieger erklärt. Der Krieg sei aus, sagte der Sprecher des Politbüros der Taliban, Mohammed Naim, gegenüber dem Sender Al Dschasira. „Wir haben das erreicht, was wir gewollt haben, nämlich die Freiheit unseres Landes und die Unabhängigkeit unseres Volkes.“

Was das konkret bedeutet, ist noch unklar. Vordergründig schlagen die Taliban vergleichsweise moderate Töne an. Innenpolitisch will man sich als Friedensbringer gegenüber der Bevölkerung darstellen. Die Sicherheit aller Persönlichkeiten Afghanistans werde garantiert, heißt es. Auch außenpolitisch zeigt man sich dialogbereit. Man strebe keine Isolation an. Allerdings ist auch diese Ansage klar: Die Taliban mischten sich nicht in die Angelegenheiten anderer ein und duldeten auch keine Einmischung in ihre Angelegenheiten.

Kalifat ohne Gewaltenteilung

Die Taliban sind hierarchisch organisiert. Der aktuelle politische Führer Haibatullah Achundsada ist ein islamistischer Prediger ohne großen Bekanntheitsgrad. Daneben gibt es jüngere Taliban-Führer, die auch eigene Entscheidungen treffen. Es gibt kein System von Gewaltenteilung wie in einer westlichen Demokratie. Wie das künftige Herrschaftsmodell aussehen wird, ist noch offen. „Die Art der Herrschaft und die Regierungsform werden bald klar sein“, kündigte Naim an.

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Die letzte Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 war gekennzeichnet durch eine fundamentalistische Auslegung des Islams in Verbindung mit konservativ-ländlichen Traditionen der Paschtunen. Die Taliban setzten ein Bildungsverbot für Mädchen durch, beschränkten die Berufsmöglichkeiten von Frauen, schrieben ihnen Ganzkörperschleier vor und erlaubten ihnen nur noch, mit einem männlichen Familienmitglied das Haus zu verlassen. Zwangsverheiratungen schon von Zwölfjährigen waren üblich. Männer mussten Bärte tragen. Die Musik, die Presse, die Malerei und sogar der afghanische Volkssport des Drachensteigens wurden beschränkt.

Kommt die Scharia zurück?

Bisherige Äußerungen deuten daraufhin, dass die neue Generation der Taliban die damalige Politik kritisch sieht. Allerdings sollen in den bereits eroberten Gebieten wiederholt Mädchenschulen in Brand gesteckt worden sein – von wem, ist unklar. Der verzweifelte Ansturm von Flüchtlingen auf dem Flughafen von Kabul deutet daraufhin, dass viele Afghanen diesen Bekenntnissen nicht trauen.

Er gehe davon aus, dass die Scharia wieder eingeführt werde, sagte der Nahostexperte Erich Gysling. Die Scharia, wörtlich: Weg zur Wasserquelle, ist keine geschlossene Gesetzessammlung und bildet kein eigenes Kapitel des Koran wie etwa die zehn Gebote in der Bibel. Sie speist sich aus verschiedenen Quellen, die nicht immer klar, sondern oft sehr bildhaft formuliert sind. Dies führt zu einer sehr unterschiedlichen Auslegung in vielen Ländern.

Dieb wird die Hand abgehackt

Gegenüber der Bild-Zeitung hat ein Taliban-Richter erklärt, wie die Scharia bei ihm funktioniert. Einem Einbrecher, der einen Ring gestohlen hatte, ließ er die Hand abschneiden. Für den Mann sei das noch glimpflich abgegangen, denn eigentlich hätte er ihm wegen des Einbruchs auch das Bein abhacken können, erklärte der Richter, allerdings sei der Geschädigte mit der abgeschnittenen Hand zufrieden gewesen. Vergeltungsjustiz ist an der Tagesordnung.

Zwar wird der Genuss berauschender Mittel in der Scharia strengstens untersagt. Dennoch finanzierte die Taliban ihre Herrschaft während ihrer ersten Zeit an der Macht zunächst durch eine Ausweitung des Opiumanbaus. Am Ende wurde dies dann wieder rabiat unterbunden. Mit ihrer brutalen Strafverfolgung gelang es der Taliban, die Korruption einzudämmen und die Kriminalität besser zu bekämpfen, als das Regime der vergangenen Jahre, sagen Beobachter.