Jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung fängt sie das post-sowjetische Leben ein: Swetlana Alexijewitsch. Foto: imago//stock&people

Den Sprachlosen eine Stimme geben: Nach der Premiere von „Boris“ in der Stuttgarter Oper haben die Autorin Swetlana Alexijewitsch und der Komponist Sergej Newski im Literaturhaus über ihr gemeinsames Projekt gesprochen.

Stuttgart - Wie entsteht ein neues Werk des Musiktheaters? So hätte die Überschrift zu einem Abend lauten können, an dem zwei Tage nach der Premiere von „Boris“ an der Stuttgarter Oper die Aufführung in einer Art Werkstattgespräch im Literaturhaus ihre Fortsetzung fand. Das Opernprojekt hatte Mussorgskis „Boris Godunow“ von 1869 mit der Uraufführung von Sergej Newskis „Secondhand-Zeit“ nach Texten der weißrussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitschmiteinander kombiniert. Newski und Alexijewitsch halten sich deshalb für einige Tage in Stuttgart auf und gaben im ausverkauften Literaturhaus aus erster Hand Anregungen zum besseren Verständnis des Werks. Moderiert wurde der Abend vom Operndramaturgen Miron Hakenbeck, der das neue Werk bei Newski in Auftrag gegeben hatte.

Alexijewitschs „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ ist wie die meisten ihrer Bücher aus Interviews hervorgegangen, die sie nach dem Untergang der Sowjetunion mit ganz gewöhnlichen Menschen über deren Leben unter dem Sowjetsystem und während der chaotischen Zeit nach dessen Auflösung geführt hat. Sie habe diesen vom Schicksal Geschlagenen zugehört, sie von ihrem Leben erzählen lassen und ihnen eine Stimme geben wollen, erklärte die Autorin ihre zwischen Dokumentation und Literarisierung changierende Vorgehensweise.

Frauen in Männerunterhosen

Dabei gehe es ihr nicht darum, diese Lebensgeschichten pathetisch zu überhöhen und dem Leiden einen spirituellen Sinn zu geben, so wie das Dostojewski oder Solschenizyn getan hätten. Das Erhabene und Geheimnisvolle liege gerade im Unheroischen und Gewöhnlichen, in der Banalität des Guten, im scheinbar unbedeutenden Detail. Beispielsweise hätten ihr Frauen auf die Frage, was das Schrecklichste während des Zweiten Weltkriegs gewesen sei, geantwortet: Dass wir unförmige Männerunterhosen tragen mussten – also der Verlust von Schönheit und weiblicher Eleganz.

Dieser Versuch von Alexijewitsch, den Sprachlosen eine Stimme zu geben, ihnen trotz der extremen Schicksale ihre Würde zu lassen, hat Sergej Newski zu seinen Opernfragmenten inspiriert. Die Verlierer der Geschichte bilden das antiheroische Gegengewicht, den Kontrapunkt zu der Haupt- und Staatsaktion vom Aufstieg und Fall des Zaren Boris Godunow, von dem Mussorgskis Oper erzählt. Die Sängerinnen und Sänger von sechs Nebenfiguren aus Mussorgskis Werk übernehmen bei Newski die Hauptrollen, erzählen bei ihm sechs Lebensgeschichten, die er aus dem Buch von Alexijewitsch ausgewählt hat. Es kommt dabei, so Newski, zu einem dissonanten „Kampf der Erzählungen“, einem Kampf zwischen der in der offiziellen Geschichtsschreibung geschilderten Zeit und der Secondhand-Zeit einer Geschichte von unten. Und während die Helden bei Mussorgski Männer sind, überwiegen bei den Gegenhelden von Alexijewitsch und Newski die Stimmen von Frauen.

Den Mörder des Ehemanns heiraten

Damit sich jene, die nicht in der Premiere von „Boris“ waren, einen Eindruck von Alexijewitschs Texten und Newskis Musik machen konnten, las die Schauspielerin Katharina Hauter zwei Auszüge aus der „Secondhand-Zeit“, und die Mezzosopranistin Stine Marie Fischer, am Klavier begleitet von Stefan Schreiber, sang eines der Fragmente aus der neuen Oper. Einmal ging es um eine junge Bäuerin, die sich während des Kriegs in einen Mann verliebte, der mit den deutschen Besatzern zusammenarbeitete und deshalb von einem Partisanen erschossen wurde – und die anschließend den Mörder ihres Mannes heiratete. Im andern Fall handelte es sich um eine Mutter, deren Sohn sich mit sechzehn Jahren das Leben genommen hatte. Beim Kollaborateur wie beim Selbstmörder ging es um Taten, die in der heroischen Geschichtsschreibung nicht vorgesehen und deshalb mit einem Tabu belegt waren. Alexijewitsch wie Newski brechen mit diesen Tabus und erzählen diese Geschichten, ohne über sie ein Urteil zu fällen.