Ein Elternpaar soll die eigene Tochter als Geisel genommen haben. Foto: dpa

Weil sie ihre Tochter und Nichte von Stuttgart aus in die Türkei verschleppt haben sollen, stehen ein Elternpaar und der Onkel des Opfers vor dem Landgericht. Der Prozess ist turbulent.

Stuttgart - Rund 3500 Kilometer über sechs Staatsgrenzen hinweg sollen ein Elternpaar und der Bruder des Vaters die Tochter im Jahr 2011 im Auto von Stuttgart nach Bingöl im Osten der Türkei gebracht haben – gegen den Willen der damals 22-Jährigen. Jetzt müssen sich der Vater, die Mutter und der Onkel wegen Geiselnahme und gefährlicher Körperverletzung vor der 5. Strafkammer des Landgerichts verantworten. Ein besonders ausgeprägtes Schuldbewusstsein scheinen die Angeklagten nicht zu haben.

2011 gerät die heute 28-Jährige immer häufiger in Konflikt mit ihren Eltern. Denen gefällt ihr „westlicher Lebensstil“ nicht. Und der Freund der Tochter, die in einer Arztpraxis in Friedberg in Hessen arbeitet, stößt auch nicht auf Gegenliebe. Ihr sei angedroht worden, man breche ihr alle Knochen, sagt die Frau im Zeugenstand. „Ich hatte Angst.“

Das Opfer soll betäubt worden sein

Ende März 2011 flieht sie aus Friedberg nach Stuttgart, wo sie in einem Frauenhaus unterkommt und einen Job in einem Imbiss annimmt. Mitte Mai nimmt ihr Onkel Kontakt auf. Per Telefon schlägt er seiner Nichte ein klärendes Gespräch vor, sie willigt ein. Laut Anklage holt der 45-Jährige seine Nichte am Rotebühlplatz ab und fährt mit ihr auf einen Parkplatz, wo man Eiskaffee trinkt. „Plötzlich ist um mich herum alles schwer geworden“, sagt die Frau. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass ihr der Onkel ein Schlafmittel in den Kaffee gemischt hat. Die damals 22-Jährige sagt, sie sei erst wieder im Grenzbereich Bulgariens aufgewacht. Inzwischen sitzt ihr Vater mit ihr auf dem Rücksitz.

Um sie ruhigzustellen sei ihr vorgelogen worden, ihre Schwester habe einen Unfall in der Türkei gehabt und liege im Sterben. Die ganze Familie müsse hin. Die junge Frau willigt ein. In Bingöl wird sie erst einmal bei der Großmutter untergebracht. Noch denkt sie nichts Böses.

Als sie dann aber merkt, dass man ihr den Personalausweis abgenommen hat, erkennt sie die Situation. Immer wieder sei ihr mit dem Tod gedroht worden, heißt es in der Anklage. Totprügeln werde man sie, falls sie zu fliehen versuche. Offenbar wollen ihre Eltern – der 52-jährige Vater hat einen deutschen Pass, die gleichaltrige Mutter ist Türkin geblieben – vollendete Tatsachen schaffen. Die Tochter wird gegen deren Willen mit einem jungen Türken verlobt. Dem soll versprochen worden sein, dadurch habe er die Möglichkeit, später nach Deutschland zu kommen, denn die Tochter ist Deutsche. Und immer wieder soll der Tochter gedroht worden sein. In der Türkei herrschten andere Gesetze als in Deutschland.

In Abwesenheit verheiratet

Man stellt einen Antrag, in dem die Frau ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufgibt – ohne ihr Wissen. Die heute 28-Jährige wird am 28. Dezember 2011 verheiratet, ohne dass sie dabei anwesend ist, was in Anatolien möglich ist. Sie muss zu ihrem Mann ziehen. Mit der Hilfe einer Freundin gelingt der Frau am 22. Januar 2013 die Flucht über Izmir nach Hannover. Seither lebt sie an einem unbekannten Ort.

Volker Peterke, Vorsitzender Richter der 5. Strafkammer, will den Prozess schnell über die Bühne bringen. Es gab Vorgespräche. Bei Geständnissen sollen die drei Angeklagten mit Bewährungsstrafen davonkommen, auch wegen der sogenannten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Zudem soll das Trio der Frau 20 000 Euro Schmerzensgeld bezahlen und ein Kontaktverbot akzeptieren. Alles scheint in trockenen Tüchern.

Es kommt anders. Der Onkel, der in Frankfurt/Main lebt, besteht darauf, seine Nichte nicht betäubt zu haben. Er mache keine weiteren Angaben. So halten es plötzlich auch die Eltern. Die Atmosphäre schaukelt sich hoch. Ehe die Tochter in den Zeugenstand tritt, müssen alle den Gerichtssaal verlassen. Die Tochter hat Angst vor Übergriffen. Alle Beteiligten und alle Zuhörer werden nach Waffen durchsucht.

Die Frau will keinen Kontakt mehr

Zuvor hatte Richter Peterke den Angeklagten klarzumachen versucht, dass sie ohne Geständnisse nicht auf Bewährungsstrafen hoffen könnten – falls sie für schuldig befunden werden sollten. Dann stünden Gefängnisstrafen im Raum, mindestens für den Vater und den Onkel. Die Angeklagten, der Vater hat eine Spedition, der Onkel eine Baufirma, bleiben bei ihrer Entscheidung.

Die Tochter sagt im Zeugenstand, sie habe mit ihrer Familie abgeschlossen und wolle keinen Kontakt mehr. Inzwischen ist die Frau Mutter einer Tochter geworden.

Der Prozess soll nun am Freitag 2. Februar, fortgesetzt werden.