Anwohner an bestehenden Straßen und Schienenwegen haben immer noch keinen gesetzlichen Lärmschutz. Baden-Württemberg will das ändern – ein Beispiel in Stuttgart-Untertürkheim erklärt, warum.
Was gilt als alt? Und was ist neu? Für viele Anwohner von Straßen oder Schienenstrecken eine existenzielle Frage. Denn wenn irgendwo in der Bundesrepublik ein Verkehrsweg gebaut wird, gelten strenge Regeln für den Lärmschutz.
Doch wer an bestehenden Verkehrswegen wohnt, hat praktisch keinerlei Rechte: Hier gibt es kein einklagbares Limit. Dies will eine aktuelle Initiative der Bundesländer unter der Federführung von Baden-Württemberg ändern. „Die derzeitige Regelung ist weder geeignet, die gewachsenen Lärmprobleme an Bestandsstrecken zu lösen, noch das Entstehen weiterer gesundheitskritischer Lärmprobleme wirksam zu verhindern“, heißt es in einem mit Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz verfassten Appell an den Bund.
Der einstige Rangierbahnhof und künftige Abstellbahnhof in Stuttgart-Untertürkheim ist ein Paradebeispiel für die Problematik, die für Straßen und Schienenwege gleichermaßen gilt. Vor vierzig Jahren wurde der Rangierbetrieb zurückgefahren. Die Gleise wurden zum Abstellen von Güterwagen benutzt. Daneben verlief weiter eine Trasse für Güterzüge.
Nach Jahren relativer Ruhe wird es laut
Doch mit der Planung für Stuttgart 21 sollte die Fläche in Untertürkheim die wegfallenden Abstellanlagen in der Nähe des Hauptbahnhofs ersetzen. Und nun könnte es wieder laut werden – ganz legal. Selbst nach dem Lärmgutachten der Bahn überschreitet der zukünftige Lärm bei drei Vierteln der 848 benachbarten Wohnungen die gesetzlichen Grenzwerte für Schienenlärm – für Neubauten, wohlgemerkt. Bei einem Viertel der Wohnungen wird es sogar doppelt so laut, als es für neue Anlagen erlaubt ist.
Doch eine Pflicht zum Lärmschutz besteht nach Meinung der Bahn nicht. „Das Unternehmen sieht das als Bestandsanlage“, sagt Michael Brunnquell, Sprecher der Bürgerinitiative. Die Bahn argumentiert sogar damit, dass es künftig leiser werde, weil die Gleise für durchfahrende Züge weiter von der Wohnbebauung entfernt seien.
Keine wesentliche Änderung?
Die Bahn sieht durch den Umbau auch keine „wesentliche Änderung“ bei der Nutzung, was gewisse Grenzwerte bedeuten würde und den Bestandsschutz gefährdet. Wenn es beispielsweise um drei Dezibel lauter wird als bisher, besteht in diesem Fall ebenfalls ein Anspruch auf Lärmschutz.
Die Bahn hat deshalb ein Interesse daran, die aktuell und künftig verkehrenden Züge möglichst lautzurechnen, damit es auch im neuen Abstellbahnhof auf Dauer laut zugehen kann. „Es ist ein beliebter juristischer Trick, die Belastung durch bestehende Verkehrsanlagen möglichst hoch anzusetzen“, sagt der Freiburger Rechtsanwalt und Lärmexperte Dominik Kupfer.
Wie laut ist es heute?
Anwohner an Schienenwegen haben immerhin seit 1999 die Hoffnung, dass ihre Strecke in das freiwillige Lärmsanierungsprogramm an Schienenwegen aufgenommen wird. Für Bundesfernstraßen gibt es ein solches Programm seit 1978. Hier sind die Lärmgrenzen weniger strikt als bei Neubauten. Und zwei Drittel der Wohnungen in Untertürkheim liegen auch über diesem großzügigeren Grenzwert. Weil der aber keine Pflicht ist, wird hier also eine sanierungsbedürftige Anlage sogar neu gebaut. Die interpretierbare Rechtslage beim Thema Lärm ist einer der Faktoren, dass sich der Streit über die Planung in Untertürkheim über ein Jahrzehnt hingezogen hat. Beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim ist eine Klage der Bürgerinitiative gegen die Lärmbelastung anhängig. „Wenn es klare, gesetzliche Lärmwerte gäbe, könnte man sich viel Streit ersparen“, sagt Brunnquell.
Dehnbare Rechtslage
Für die baden-württembergische Landesregierung ist die Gesetzeslage ein Unding. „Es kann nicht sein, dass selbst bei gesundheitskritischen Lärmbelastungen an bestehenden Straßen oder Schienenwegen kein Rechtsanspruch auf Lärmschutzmaßnahmen besteht“, sagt die im Landesverkehrsministerium für das Thema zuständige Staatssekretärin Elke Zimmer (Grüne).
Aktuelle Lärmsanierung eine Krücke
Der Anwalt Kupfer sieht klar eine verfassungsrechtliche Pflicht verletzt: „Lärmsanierung ist keine Wohltat: Die aktuellen freiwilligen Lärmsanierungsprogramme sind eine reine Krücke.“ Es gehe hier um eine durch den Staat verursachte Gesundheitsverletzung. Wenn sich die Belastung jenseits der Prognosen entwickele, erkläre sich der Staat für nicht verantwortlich: „Das ist dann eben der Verkehr – und damit will der Staat als Erbauer der Straße oder des Schienenweges nichts mehr zu tun haben.“
Es sei klar, dass die Lärmsanierung wegen der Kosten zeitlich gestaffelt werden müsse, heißt es im Landesverkehrsministerium: „Wichtig ist aber auch, dass durch entsprechende Regelungen das Entstehen neuer Belastungsschwerpunkte verhindert wird.“ Genau dies wäre nach Meinung der Anwohner in Untertürkheim der Fall.
Wenn erst einmal gebaut ist, dann ließen sich nachträglich keine Lärmschutzwände mehr einziehen, sagt deren Vertreter Brunnquell: „Wenn das hier durchgeht, dann ist erst einmal eine ungute Situation für lange Zeit zementiert.“
Wie laut darf es werden?
Neubauten
Wenn irgendwo in Deutschland ein Verkehrsweg neu gebaut wird, dann gelten insbesondere nachts strenge Werte. Der strengste, nächtliche Grenzwert von 49 Dezibel für Wohngebiete entspricht dem Geräusch eines leisen Radios oder Vogelgezwitscher.
Bestand
Anwohner von bestehenden Verkehrswegen haben erst ab einem Pegel von 70 Dezibel am Tag eine Chance, vor Gericht mit ihrem Gesundheitsrisiko zu argumentieren. Das ist das Geräusch eines Staubsaugers oder Haartrockners. Nachts müssten sie mit 60 Dezibel immerhin noch das Lärmniveau einer normalen Unterhaltung dulden.