Beat Zoderer, Flickenarbeit, 2006 Foto: Kunstmuseum/VGBildKunst

Kunstmuseum Stuttgart:Mit ihrem „neuen Blick“ auf die Sammlung hebt Ulrike Groos in der Schau „360 Grad“ ungeahnte Schätze.

Die von Ulrike Groos, Direktorin des Hauses, unter rund 15 000 Werken getroffene Auswahl von mehr als 300 Arbeiten lässt nichts vermissen, zeigt im Gegenteil mit „neuem Blick“ viel bisher nicht Gezeigtes und effektiv Neues. Andererseits will „die Rückkehr der Sammlung“ sagen, dass ihre Verlegung in die drei Etagen des Kubus anlässlich der Majerus-Ausstellung 2011 ein Ende hat, also gewissermaßen „wieder vom Kopf auf die Füße gestellt“ ist. Wie früher wird die Sammlung im Erdgeschoss und im weitläufigen Untergeschoss gezeigt.

Gleich im ersten Saal sieht sich der Besucher den Anfängen der Sammlung gegenüber, die mit der Schenkung des Grafen Silvio della Valle di Casanova 1924 entscheidende Impulse erhielt. In einmal üblich gewesener „Petersburger Hängung“, nämlich dicht nebeneinander, erinnert eine Phalanx von Gemälden an die klassische Unterscheidung der Gattungen Porträt, Stillleben und Landschaft.

Überraschender Blick auf Dix

Außerdem ruft die Auswahl Künstler in Erinnerung, die zu Unrecht Gefahr laufen, vergessen zu werden. Selbst die „schwäbischen Impressionisten“ Robert Breyer, Otto Reiniger, Hermann Pleuer, Christian Landenberger und Friedrich Wilhelm Herter sind davor nicht gefeit. Von Heinrich Altherr, einst der konservative Gegenpol von Adolf Hölzel an der Stuttgarter Akademie, ist ein Nägele-Porträt zu sehen. Unbedingt zu nennen sind Leonhard Schmidt, Jakob Bräckle (den Wolfgang Laib offenbar schätzt) und Käthe Löwenthal. Johannes Itten fällt mit kristallin stilisierten Sängern auf. Am „Fragment B 2“ mit einem Kafka-Zitat von Joseph Kosuth wird deutlich, wie sich der Horizont der Sammlung erweiterte. Doch auch der amerikanische Konzeptkünstler war Akademielehrer in Stuttgart.

Rückwärts gewandt, doch heute noch aktuell, ist auch die lange Reihe von Lacktafeln, die Willi Baumeister und Oskar Schlemmer während des von den Nazis verhängten Malverbots in der Wuppertaler Lackfabrik von Dr. Herberts fertigten. Es sind Experimente mit den „Eigenbildungskräften des Materials“ gewesen, die geradeswegs in die Nachkriegsära führen. Die letzte Tafel von Haegue Yang, wo mit Lack bearbeitete Pflanzen Insekten und Staub anziehen, stellt die Aktualität solcher Verfahren unter Beweis. Zwischendurch lenkt eine mehrere Stockwerke hohe Wand den Blick auf vertikal angeordnete Arbeiten von Dieter Roth, der das Profil der Sammlung maßgeblich schärft. Kaum zu übertreffen in dieser Hinsicht ist aber Otto Dix. Der Akzent liegt hier auf bezaubernden Kinderbildnissen. Überraschend kommen viele Zeichnungen, Gewandstudien, Faltenwürfe und Studien von Händen sowie die neu erworbene „Zirkusmappe“, die alle miteinander den „Bürgerschreck“ als „Könner“ ausweisen. Die junge israelische Künstlerin Yael Bartana hat Kriegskrüppel des Meisters filmisch reanimiert: „Entartete Kunst lebt“!

Achse Zürich – Stuttgart in Sachen Konkreter Kunst

Ein Hauptaugenmerk der Schau gilt indes der Entwicklung abstrakter Kunst in den 1950er Jahren. Ein Raum widmet sich Willi Baumeister und Fritz Winter, die beide Mitglieder der Gruppe ZEN 49 gewesen sind und fernöstliche Anregungen aufgriffen und in die Abstraktion integrierten. Daneben finden sich frühe Werke von K.R.H. Sonderborg und Georg Karl Pfahler, von dem an anderer Stelle „Hard Edge“ gezeigt wird. Ein weiteres Kapitel der Entwicklung schlagen Imi Knoebel, Horst Kuhnert und Thomas Lenk auf. Nicht minder bedeutend für den Standort Stuttgart ist Konkrete Kunst gewesen. Über Camille Graeser, der bis 1933 in Stuttgart ein Gestaltungsbüro führte und sich dann nach Zürich absetzte, und Anton Stankowski, der umgekehrt von Zürich nach Stuttgart fand, bildete sich eine regelrechte Achse Zürich – Stuttgart in Sachen Konkreter Kunst. Wesentliche Impulse gingen dabei von den Schweizern Richard Paul Lohse und Max Bill aus, aber auch von Josef Albers, der in den USA wirkte, und der Britin Bridget Riley. Deren Arbeiten sind 2009 über die Sammlung Heinz und Anette Teufel in den Besitz des Kunstmuseums gelangt. Mit beinahe hegelianischer Dialektik führt der Parcours zu Dieter Krieg und Uwe Lausen, die für Neue Figuration beziehungsweise für eine sehr eigene Deutung der Pop Art stehen. Dieter Krieg wurde anfangs mit surreal strapazierten Körpern, etwa der „Akrobatin“, bekannt, ehe er auf riesigen Formaten mit furiosem Duktus Dinge zu Stellvertretern des Menschen machte. So verschieden der früh verstorbene Stuttgarter Lausen das anpackt: Auch er fällt mit Intensität auf und begnügt sich endlich mit der Darstellung von Wasserhähnen oder Tuben. Gleich daneben teilen sich Adolf Hölzel und Reinhold Nägele einen Raum. Als der spätimpressionistische Freilichtmaler Hölzel 1905 von Dachau an die Königliche Akademie berufen wurde, ahnte man nicht, dass man sich einen „Wolf im Schafspelz“ besorgt hatte. Nägele hat Stuttgarts Stadtentwicklung auf Hinterglasbildern akribisch festgehalten – mit scharfem Blick für Details.

Stolz weist Ulrike Groos auf die restaurierte „Neon“-Arbeit von Joseph Kosuth hin. 1965 entstanden, nur in vier Exemplaren existent und die erste ihrer Art, stellt sie eine Rarität und eine „Ikone der Kunstgeschichte“ dar. Kosuth ist wieder ein eigener Raum gewidmet. Sein Schüler Thomas Locher behält diesen skeptischen Blick auf Worte bei, schafft mit vier Stühlen um einen Tisch die Bedingung für einen Gedankenaustausch und führt ihn in dieser „Hermeneutik des Diskurses“ mit leeren Worthülsen ad absurdum. Ähnliches gelingt Karin Sander mit einem „Quell-Code“, der das Museum von vorn bis hinten quert.

In Stuttgart wurde spät damit begonnen, Plastik und Skulptur zu sammeln

Neben Kosuth ist auch Dieter Roth für das Kunstmuseum von besonderer Bedeutung. Man ist im Besitz einer der größten öffentlichen Sammlungen aus allen Schaffensphasen des Künstlers. Mit der jüngst als Dauerleihgabe erworbenen „Bar 3“ von 1979, einem Glanzlicht der Neupräsentation, lässt sich Dieter Roths Leidenschaft für Musik veranschaulichen. Und das ist längst nicht alles. Der eindrucksvoll als quadratisches Bodenobjekt präsentierte „Milchstein“ von Wolfgang Laib (dessen „Wachsraum“ nun wieder zugänglich ist) bildet mit seinem glatten Spiegel aus regelmäßig nachgefüllter Milch den Übergang zum Kapitel „Skulptur“ im Kunstmuseum.

In Stuttgart wurde erst spät damit begonnen, Plastik und Skulptur zu sammeln, Beispiele aus überregionalen Werkkomplexen sogar erst seit den 1980er Jahren. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Skulpturenraum den Gang durch die Ausstellung mit einer solch wunderlichen Mischung beendet. Das ist keineswegs herabsetzend gemeint. Da steht man erst am Anfang, während das Haus eine unabsehbare Menge an Zeichnungen hütet, die viel für die Zukunft versprechen!

Vorbei also an der unübersehbaren Ölpumpe von Josephine Meckseper gelangt man zu Arbeiten von Guy Bar-Amotz, Max Bill, Tony Cragg, Martin Creed, Georg Herold, Heague Yang und Beat Zoderer. Max Bills „Zwilling als Viertelskugel“ (1968) ist aus massivem Granit und ebenso schlicht wie schön. Tony Cragg hat den Klassiker von Marcel Duchamp, dessen Flaschentrockner, ins Gigantische gesteigert und auch jede Menge Flaschen untergebracht. Und Georg Herold präsentiert säuberlich aufgereihte Luftballons in unterschiedlicher Größe. „Die Luft ist rein“ heißt das. Und das klingt versöhnlich.