Seeed-Frontmann Peter Fox Foto: Lichtgut / Ferdinando Iannone/Lichtgut / Ferdinando Iannone

Herrlich en passant avanciert das Berliner Reggae-Kollektiv Seeed zur aktuellen Konsens-Band der deutschen Popszene – und begeistert in der Schleyerhalle mit weltoffenem Entertainment, das keine großen Gesten braucht.

Stuttgart - Nach etwa einer Viertelstunde bekommt der Seeed-Sound auch das dazugehörige Gesicht. Dann haben drei grob gepinselte Schwarz-weiß-Transparente ausgedient und geben den Blick frei auf eine LED-animierte Lautsprecherwand, in deren Mitte massiv vibrierende Bassmembranen schier aus ihren Chassis zu springen scheinen. Denn der Reggae von Seeed, das ist Bass-Musik: schwer, tieffrequent, voller körperlicher Grooves, die wie ein Sumo-Ringer heranwalzen. Doch bei dem Musikerkollektiv aus Berlin kommt das Genre in mindestens drei Erscheinungsformen daher: mal als klassische, gemütlich wogende Gute-Laune-Musik, mal als verblüffend wuchtiger, elektronisch aufgeladener Dancehall-Sound oder auch in Form von gaaanz langsamen, schier ins Zeitlupentempo gedrosselten Schunklern.

Raffiniert haben Seeed ihren Stil seit dem Karrierestart Ende der 1990er-Jahre bis an beide Endpunkte des Soundspektrums ausdifferenziert, noch viel erstaunlicher aber ist der derzeitige Boom um diese Band, die Mitglieder aus dem Baskenland und aus Ghana, aus Guinea, Jamaika, der Schweiz und von der Spree in sich vereint. Obwohl man die vergangenen sieben Jahre nur sporadisch am Musikbusiness teilgenommen hat – seit 2012 gab es kein neues Album und nur gelegentliche Liveauftritte – schwingt sich das Tentett gerade in neue Rekordsphären hinauf: Das kürzlich erschienene Album „Bam Bam“ avanciert zum Hitparaden-Coup, der auf Fridays-for-Future-Demos ebenso läuft wie in der schicken Werbeagentur im Fabrikloft und beim loungigen Frisör um die Ecke, und die Konzerttournee führt Seeed landauf landab durch randvolle Zehntausender-Arenen.

Auch die Schleyerhalle ist am Freitagabend so gut wie ausverkauft, zwölftausend Fans erleben das Stuttgarter Gastspiel der Herren Fox, Dellé und dem Rest der coolen Gang. Eine positive, weltoffene Grundhaltung kombinieren Seeed mit einem guten Schuss Berliner Schnauze, zentnerschwere Grooves mit leichtfüßigen Afrobeats und ein paar wohldosierten Anleihen beim HipHop – und fertig ist ein musikalischer und emotionaler Basisakord, auf dem es sich lässig durch fast jede Lebenslage surfen lässt.

Publikum muss etwas warten

Etwas Geduld baucht das Stuttgarter Publikum allerdings. Bis 21:15 Uhr lassen Seeed ihre Fans warten, dann aber lässt sich die durch einen zweiten Saxofonisten und zwei Backgroundsänger zum dreizehnköpfigen Ensemble erweiterte Truppe nicht lange bitten, sondern verwandelt die Schleyerhalle bis in die Sitzplatzbereiche hinein in eine überschäumende Dancehall. Gleich sieben Songs aus „Bam Bam“ stehen dabei auf dem Spielplan, darunter „Ticket“, das den Abend mit luftigen Riffs eröffnet. Rudimentär klingt das Spiel von Rüdiger Kusserow hier zunächst – so als würde der Seeed-Saitenmann gerade eine selbstgebastelten Teabox-Gitarre bedienen.

Doch schon mit dem nächsten Song „Lass sie gehn“ schwenkt die Musik auf den typischen Seeed-Stil ein. Nicht, dass der Sound ohne seinen voluminösen Bläsersatz in sich zusammenfallen würde, kein bisschen: Schlagzeuger Sebastian Krajewski sorgt mit einem trockenen Beat und quirligen Fills zwischen den Takten für einen kontinuierlichen Drive, der Bass von Tobias Cordes wühlt sich resolut durch tiefe Frequenzen, Saitenmann Rüdiger Kusserow schiebt bei der Beziehungscrash-Studie „Sie ist geladen“ gar ein Gitarrensolo ein, das jeder Prog-Rock-Band gut zu Gesicht stehen würde.

Lichtkegel für verstorbenen Kollegen

Aber es sind eben doch die drei Bläser, die den Ton angeben: Jérôme Bugnon pustet seine Posaune mit elefantöser Kraft, das Saxofon von Moritz Schumacher trötet so kernig wie das Nebelhorn einer Kanalfähre – so auch in „Wonderful Life“, jener zarten Britpop-Ballade, die bei Seeed zum feisten Groovemonster mutiert. Zügig reihen Seeed fortan einen Song an den anderen, machen dabei so ziemlich alles richtig und bewahren sich insbesondere ihren Charakter als Sound-System, als aus einzelnen Bausteinen konfiguriertes Klangkollektiv, dessen Bestandteile individuell erkennbar bleiben, sich aber präzise zu einem druckvollen Gruppensound verzahnen.

Tüchtig getanzt wird dazu allenthalben in der typischen Seeed-Choreographie, einer Kombination aus expliziten Hüftschwingern, seitlichen Übersteigern und einem Hauch Gangnam-Style, ehe das Set mit „You and I“ seinen Gänsehautmoment bekommt: Ein einsamer Lichtkegel leuchtet hier jenen leeren Platz aus, den der 2018 verstorbene Kollege Demba Nabé im Gruppenensemble hinterließ. Über Seeed-Evergreens wie „Augenbling“, „Dancehall Caballeros“ und „Waterpumpee“ sowie Highlights aus dem Oeuvre von Frontmann Peter Fox („Schwarz zu blau“, „Alles neu“) geht es dann Richtung Finale. Synthetische Bässe lassen die Schleyerhalle zu „Dickes B“ und „Aufstehn“ förmlich erbeben, drei Breakdancerinnen wirbeln über die längst großflächig ausgeleuchtete Bühne, alle Beteiligten drücken das Gaspedal bis zum Anschlag durch: furioses Finale eines Abends voll tadellosem Entertainment – und voll kultureller Vielfalt, die ohne jede explizite Geste funktioniert.