Die Lage in der ukrainischen Hauptstadt spitzt sich weiter zu. Viele Bewohner fliehen, andere wollen kämpfen. Ihre Berichte sind erschütternd.
Kiew - Russische Panzer rollen durch die Straßen, Menschen fliehen oder suchen Schutz in den Kellern. Und die Regierung fordert ihre Bürger dazu auf, Molotow-Cocktails für den Häuserkampf herzustellen. In der ukrainischen Hauptstadt wächst die Verzweiflung – auch angesichts erster Hinweise auf Kriegsverbrechen.
Tobias Weihmann verbringt die Nacht zum Freitag, in der russische Truppen auf die ukrainische Hauptstadt vorrücken, in einem Kellerraum im Zentrum von Kiew, gemeinsam mit seiner im achten Monat schwangeren Frau und den beiden Kindern, zwei und 13 Jahre alt. Auf Facebook postet er ein Bild. Aufgerissener Boden, bröckelnde Wandfliesen, Schlafsäcke, eine Puppe für die Zweijährige. Bildbeschreibung: „Hotel Putin“. Es wird vorerst die letzte Nacht sein, die sie in Kiew verbringen.
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„Heute wird der härteste Tag“
Am Morgen teilt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Fernsehrede mit, dass Russland um 4 Uhr Ortszeit – in Mitteleuropa ist es da eine Stunde früher – die Raketenangriffe auf das Land wieder aufgenommen hat. Beschossen würden zivile und militärische Ziele. Ein Berater des ukrainischen Innenministers sagt wenig später: „Heute wird der härteste Tag.“ Die Ukraine rechnet mit Panzerangriffen auf Kiew.
Per Messenger-Chat schildert Tobias Weihmann, ein 42-jähriger Deutscher, der seit 2015 als Software-Entwickler in Kiew lebt, die Lage am Freitag. Am Morgen, nach wenig Schlaf, sind sie zurück in ihre Wohnung gegangen. Zu groß sei die Angst, von russischen Soldaten entdeckt und „sortiert“ zu werden, schreibt Weihmann. Seine Frau ist Redakteurin beim Online-Medium „Euromaidan Press“, das seit der russischen Invasion Ziel einer Cyberattacke ist. „Wer mit dem Maidan, also der demokratischen Revolution des Winters 2013 und 2014 zu tun hat, der ist für die ein Nazi“, schreibt Weihmann.
Erste Hinweise auf Kriegsverbrechen
Präsident Selenskyj hatte mitten in der Nacht in einer Videobotschaft davon gesprochen, er wolle in Kiew bleiben. „Der Feind hat mich zur Zielscheibe Nummer eins erklärt. Meine Familie ist das Ziel Nummer zwei. Sie wollen die Ukraine politisch zerstören, indem sie das Staatsoberhaupt zerstören.“
Weihmann schreibt: „Ständig Explosionen. Dann mal wieder eine Stunde Pause und dann wieder Explosionen. Auf der Straße auf den ersten Blick Normalität.“
Es gibt Hinweise auf Kriegsverbrechen in der Stadt. Im Internet kursiert ein Video, das einen Panzer auf einer nahezu menschen- und autoleeren Straße eines Wohngebietes zeigt, der dann gezielt auf einen entgegenkommenden Wagen gesteuert wird. Der Wagen, dem Anschein nach ein Fahrzeug eines Zivilisten, wird überrollt.
Ein Panzer überrollt ein Auto
Eine Anwohnerin sagt am Telefon, auf der Hauptstraße vor ihrer Wohnung seien immer wieder Panzer zu sehen. Sie heißt Kate, ihren vollen Namen will die junge Frau nicht preisgeben. Sie lebt im Norden von Kiew, in einem Viertel namens Obolon. Am Telefon zittert ihre Stimme, sie sei in Panik, sagt sie, könne nicht richtig sprechen. Den ganzen Tag schon sehe sie russische Panzer, Einschläge von Raketen seien zu hören.
„Und gerade eben“, sagt sie mit brechender Stimme, „höre ich plötzlich ein lautes Geräusch und Schreie von draußen.“ Sie sei zum Fenster gelaufen und habe gesehen, dass ein russischer Panzer, ein großes „Z“ auf der Seite aufgemalt, ein ziviles Auto überrollt hat. „Ich bin sofort nach unten gerannt und habe gesehen, dass da ein Mann drin war“, sagt sie. „Er war am Leben, aber offenbar schwer an den Beinen verletzt.“ Wie es zu der Situation gekommen ist, wisse sie nicht. Kate beginnt zu weinen. „Die Russen sind extrem brutal, das ist kaum vorstellbar.“ Sie müsse auflegen, sagt sie. Sie könne nicht mehr.
Friedliche Existenzen in der Ukraine werden vernichtet
Berichte über Gefechte in Obolon gibt es seit dem Morgen. Das ukrainische Verteidigungsministerium ruft die Zivilisten im Viertel zu den Waffen. „Wir bitten die Bürger, uns über feindliche Bewegungen zu informieren, Molotowcocktails vorzubereiten und die Besatzer zu neutralisieren“, heißt es in einer Erklärung auf Facebook. „Die Stadt ist im Verteidigungsmodus“, sagt Bürgermeister Vitali Klitschko der Agentur Unian zufolge. Schüsse und Explosionen in einigen Gegenden bedeuteten, dass russische „Saboteure“ ausgeschaltet würden. „Die Situation ist schwierig, aber wir glauben an unsere Streitkräfte und unterstützen sie.“
Sollen sie bleiben?, fragt sich – anderswo in der Stadt – die Familie des Deutschen Tobias Weihmann am Vormittag. „Die Familie wohnt seit 100 Jahren in diesem Haus.“ Jetzt gehe es einfach nicht mehr. Aber wohin sollen sie sonst? Am Vormittag versuchen sie noch schnell den Familienbesitz zu verstecken, Erbsachen, Broschen der Urgroßmutter. Die zweijährige Tochter versteht nicht, was vor sich geht und spielt mit den Ketten aus der Schmuckkiste. Und wie geht es ihrer 13-Jährigen Schwester? „Erwachsen, traurig, schockiert, traumatisiert, keine Ahnung. Es ist einfach surreal. Die Menschen lebten hier ihr Leben und wollten friedlich und demokratisch ihr Land aufbauen. Das wird jetzt vernichtet.“
Flucht im Auto aus Kiew
Der Vater der 13-Jährigen, der Ex-Mann seiner Frau, wolle kämpfen, schreibt Weihmann. „Er ist hier und geht jetzt zur Territorialverteidigung. Unklar, ob sie ihn wiedersieht.“ Am Abend zuvor hatte Präsident Selenskyj die Generalmobilmachung angeordnet. Sein Vorgänger, Petro Poroschenko, zeigt sich am Mittag während eines CNN-Interviews inmitten einer Gruppe von ukrainischen Zivilverteidigern und greift zu einer Kalaschnikow. Der ukrainische Verteidigungsminister gibt bekannt, 18 000 Gewehre mit Munition seien an Reservisten ausgegeben worden.
Weihmanns Familie trifft derweil eine Entscheidung. Sie wollen aus Kiew fliehen, Weihmanns Nachrichten kommen jetzt im Stakkato. „Wir sind im Auto / Gefährlich / Sehr / Führerschein vergessen, aber nicht mehr zurück“. Sie wollen Richtung Lwiw fahren, in der Westukraine, 500 Kilometer. „Es gibt in Kiew schon Blockaden, und wir wollen nicht auf eine russische Kolonne stoßen. Und Luftschläge. Aber den letzten vor einer halben Stunden gehört. Wenig Autos.“
Bürgermeister Klitschko nennt Verluste
Weihmanns Frau fährt, er navigiert. Und schreibt hektisch Nachrichten: „Ich habe mich von meinen Eltern in Deutschland zur Sicherheit verabschiedet. Per Whatsapp.“ Sie fahren Richtung Südwesten, Hauptsache raus. „Leute wollen per Anhalter mit. Aber wir sind voll.“ Kurz darauf der erste Stau auf einer Ausfallstraße hinter der Stadtgrenze. Sie kämen voran, aber stockend, quälend langsam. Und immer wieder die Anhalter, die raus aus der Stadt wollen, aber nicht raus können. „Meine Frau besteht darauf, noch Leute mitzunehmen“, schreibt Weihmann. „Eigentlich kein Platz, aber es geht um Menschenleben.“
Die Familie hört Radio. Um kurz nach 13 Uhr ist Bürgermeister Vitali Klitschko zu hören, er zählt Verletzte und Tote auf. Eine gute halbe Stunde später meldet die Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf das Moskauer Verteidigungsministerium, russisches Militär blockiere Kiew im Westen.
Viele sind psychisch am Ende
Mit jeder vergehenden Stunde wird es schwerer, jene Menschen, die in der ukrainischen Hauptstadt geblieben sind, zu erreichen. Viele befinden sich in Schutzbunkern oder U-Bahn-Stationen, wo das Handynetz oft schlecht ist. Oder sie sind psychisch fertig von den letzten Tagen: „Ich kann jetzt gerade einfach nicht sprechen“, schreibt ein junger Mann namens Yevhen, der sich entschlossen habe, in der Stadt zu bleiben, per Messenger-Dienst. Er versuche gerade aus dem Keller seines Wohnhauses, wo er mit mehreren Dutzend anderen Menschen ausharrt, seine kränklichen Eltern aus einem Dorf in der Nähe von Kiew herauszubekommen. „Ich kann nicht mehr, mental wie physisch“, schreibt er. Bleiben will er trotzdem.
Olena Baida kommt gerade aus einem anderen Schutzraum, ihrer nächstgelegenen U-Bahn-Station. Am Morgen, kurz nach 8 Uhr, hatte es wieder Luftalarm gegeben, zum dritten Mal an diesem Tag in ihrem Viertel. „Mein Mann und ich packen dann unseren Sohn ein und gehen runter“, sagt Baida am Telefon. „Meist sind schon Hunderte andere Anwohner da.“
Viele Bewohner Kiews melden sich freiwillig
Baida lebt in Solomyanskij im Westen von Kiew. „Gerade ein schlechter Ort zum Wohnen“, sagt die 32-Jährige. Eine Militärbasis, ein wichtiger Bahnhof und das ukrainische Verteidigungsministerium befinden sich um die Ecke. „Wir werden hier in den nächsten Tagen wohl heftig bombardiert werden“, sagt sie. Während des Gesprächs sind im Hintergrund immer wieder dumpfe Detonationen zu hören.
Ihre Stadt beschreibt Baida, die in normalen Zeiten als technische Direktorin für EU-finanzierte Infrastrukturprojekte arbeitet, als gespenstisch. Nur wenige Menschen seien auf den Straßen unterwegs, viele von ihnen mit Koffern. „Und wenn es wieder Explosionen gibt, laufen alle los.“ Überhaupt liege Panik in der Luft, sagt sie. Die Nachrichtenlage sei in der Stadt unzuverlässig, die Menschen auf der Suche nach Informationen. „Das treibt sie auf die sozialen Medien, wo Russland gezielt Desinformation betreibt.“
Ihr Mann sei derweil gerade beim Blutspenden, sagt Baida. Seit knapp zwei Stunden stehe er schon an. Auf dem Weg sei er an einer Stelle vorbeigekommen, an der sich Zivilisten freiwillig zum Dienst an der Waffe melden können. „Da war eine riesige Schlange“, sagt Baida. Sie selbst muss gleich wieder los, wie sie sagt. Sie will ihren Mann treffen und mit ihm ihren kleinen Sohn zu den Großeltern bringen, die außerhalb der Hauptstadt leben. Danach wollen beide zurück nach Kiew kommen. „Um zu kämpfen“, sagt Baida. Ob an der Waffe oder anders, das werde sich zeigen.
Eine Stadt von Journalisten und Kämpfern
Laut einer Umfrage des Kiewer Instituts für Sozialwissenschaften von Anfang Februar waren 58 Prozent der Ukrainer bereit, Widerstand gegen eine russische Invasion zu leisten. Im Westen und im Zentrum des Landes sogar 73 Prozent. „Und das sind jetzt noch mehr geworden“, sagt Olena Baida.
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Ein Kiewer, der aus Angst vor Repressionen nicht namentlich in einer Zeitung erscheinen will, sagt: „Kiew entwickelt sich zu einer Stadt von Journalisten und bewaffneten Kämpfern. Alle anderen fliehen oder sind schon weg.“ Und Natascha, eine 25 Jahre alte Kiewerin, sagt: „Überall gibt es Schüsse, Kriegsgeräusche, die man nicht immer klar zuordnen kann. Zuerst wollte ich nicht in Panik verfallen, aber das geht nicht mehr. Der Bürgermeister hat dazu aufgerufen, dass die Leute Wasservorräte anlegen sollen.“
Am Abend melden amerikanische Militärs, der Vormarsch der Russen komme ins Stocken. Die Lage bleibt unklar.