Autofrei oder nicht? Die Debatte um die Zukunft der Innenstadt beschäftigt in Kornwestheim die Kommunalpolitik. Foto: Marius Venturini

Im Sommerinterview spricht FDP-Stadtrat Ender Engin unter anderem über die Innenstadt.

Kornwestheim - Die Kornwestheimer FDP ist vieles – aber nicht auf dogmatische Weise liberal. Fraktionsvize Ender Engin berichtet im Interview, warum er nicht an die Selbstheilungskräfte des Marktes in Sachen Wohnbau glaubt, was ihm am Holzgrundplatz nicht gefällt und wie er seine Partei für die Bundestagswahl aufgestellt sieht.

Herr Engin, wie kommt es, dass wir heute nicht mit dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Andreas Schantz sprechen, sondern mit Ihnen, seinem Stellvertreter?

Er hat mich gefragt, und ich habe gesagt: Warum denn nicht. Etwas Abwechslung tut ja mal gut.

Auch weil die FDP in Kornwestheim noch immer als die Fraktion der jungen Wilden gilt, wo man Dinge auch mal anders handhabt?

Ich weiß nicht, ob Andreas Schantz mich aus diesem Gedanken heraus gefragt hat. Wir haben das gar nicht groß diskutiert, sondern einfach so festgelegt. Vielleicht spielt er ein wenig mit dem Gedanken: Lasst mal die Jüngeren ran. Da ist er im besten Sinne offen. Und vielleicht, ohne da vorweggreifen zu wollen, bereitet er bereits vor, in Zukunft auch politisch etwas kürzer zu treten.

An der Stelle von Andreas Schantz‘ früherem Schuhladen entsteht übrigens ein Café…

Das stimmt. An dieser prominenten Stelle hätte ich mir im Übrigen ein anderes Werbeschild für die Stadt gewünscht. Die Frage ist, was neben Bäckereien, Cafés und Co. sinnvoll ist, was man überhaupt ansiedeln kann. Einkaufen in der Bahnhofstraße, das machen die Leute nicht mehr so oft. Um die Innenstadt zu beleben, brauchen wir hier eine Mischung aus kleinen Läden, aus Orten und Plätzen, an denen man sich gerne aufhält. Natürlich auch – qualitätsvolle – Gastronomie. Die Frage ist zudem bei jeder Ansiedlung: Welche Klientel ziehen wir an? Bringt es etwas für die noch vorhandenen Geschäfte?

Aber der Holzgrundplatz kann etwas Leben gebrauchen, oder?

Auf jeden Fall. Ich habe mich mal kundig gemacht und auch mit anderen Stadträten darüber gesprochen, ob man das neue Café denn auf dem Holzgrundplatz bestuhlen und bewirten kann. Das wäre schon etwas Positives. Ich habe aber vernommen, dass das wegen der dazwischenliegenden Straße problematisch, das Gefahrenpotenzial zu hoch wäre. Grundsätzlich würde ich mir in diesem Bereich weniger Beton und mehr natürliches Grün wünschen anstelle von Kübeln. Ich bin mir sicher: Das würde die Aufenthaltsqualität des Holzgrundplatzes sehr steigern und mehr Menschen anziehen.

Seit zwei Jahren ist die FDP im Gemeinderat zu dritt. Wie fühlt sich die Arbeit als eigene Fraktion an?

Wir könnten noch einmal drei Stadträte brauchen. Arbeit haben wir genug, es passiert so viel in der Stadt. Nach der Wahl ging es schnell, wir mussten uns einfinden, lernen, recherchieren, was bisher so passiert ist. Übrigens: Auch wenn wir für Furore und Streit im Vorfeld der Wahl gesorgt haben – man kann nun gut miteinander arbeiten, Stimmung und Kommunikation im Rat sind generell gut. Wir kriegen Kritik ab, aber wir hören auch von Stadträten anderer Fraktionen: Schön, dass ihr da seid, ihr bringt frischen Wind rein.

Hoch her ging es zuletzt aber beim Thema Livestreaming aus dem Gemeinderat ins Internet. Das wollte die FDP, am Ende entschied aber eine Mehrheit des Gemeinderates dagegen.

Generell dazu: Mich stören Hinterzimmergespräche. Und interessanterweise – bei einem Thema, bei dem es um Transparenz geht – war die größte Kritik, die an uns herangetragen wurde: Wieso habt ihr euch nicht vorher mit gewissen Kreisen unterhalten und abgestimmt, bevor das in die Presse ging und in den Gremien besprochen wurde? Ich erwidere: Debatte muss öffentlich sein und nachvollziehbar. Wobei man hier fairerweise sagen muss: Natürlich betrifft das Thema Videoübertragung die Persönlichkeitsrechte der Stadträte und Stadträtinnen direkt. Dass es Vorbehalte gab, kann ich verstehen. Ich glaube, es gab viel Sorge, dass die persönliche Nähe zum Bürger auf eine Weise wächst, die schwierig zu kontrollieren ist. Es ist natürlich anstrengend für Gemeinderäte, die wir ja ehrenamtlich tätig sind, plötzlich stärker im medialen Fokus zu stehen. Dennoch ist es wichtig, dass wir die Bürger mitnehmen, auch über neue technische Möglichkeiten. Übrigens ist die Notwendigkeit zu vorbereitenden Gesprächen im Kreistag noch viel größer (Ender Engin ist auch seit 2019 Kreisrat für die FDP – die Redaktion). Dagegen ist die öffentliche Debatte im Gemeinderat richtiggehend munter. Ich will nicht wissen, wie es im Bundestag zugeht (lacht).

Apropos große Politik: Bald sind Bundestagswahlen. Steht die FDP hinter dem Kandidaten aus Ludwigsburg?

Oliver Martin ist ein klasse Typ! Sehr aktiv, viel unterwegs, sehr authentisch. Ich fühle mich seinen Ideen sehr nahe. Wir bemühen uns darum, dass wir für ihn und die FDP in Kornwestheim ein paar Punkte mitnehmen. Da kommt noch etwas von uns, ich will aber noch nicht zu viel verraten.

Wird die FDP denn bundesweit gut abschneiden?

Ich bin mir sicher, dass die FDP insgesamt gestärkt aus den Wahlen hervorgeht. Ein Beispiel für unsere Dynamik hier vor Ort: Die Jungen Liberalen in Ludwigsburg haben ihre Mitgliederzahlen verdoppelt. Ich glaube, dass solche Entwicklungen auch auf Bundesebene spürbar werden. In der Pandemie haben wir als Partei – ohne die Gefahr des Virus kleinzureden – Kritik an Maßnahmen geäußert und Interessengruppen vertreten, die sonst vielleicht keine starke Stimme gehabt hätten. Wir haben eine Ventilfunktion für demokratisch legimitierte Kritik. Nicht öffentlich haben wir als Partei auch beraten, den Menschen, Gastronomen, Gewerbetreibenden und Co. so zu helfen.

Wie hat sich Kornwestheim als Stadt denn in der Pandemie geschlagen?

Man kann nicht alles entscheiden, vieles in Sachen Verordnungen wird vorgegeben. Da, wo wir gestalten konnten, haben wir uns meiner Meinung nach gut geschlagen. Die Verwaltung hatte etwa eine gute Kommunikation zu den Schulen. Die Absprachen waren eng. Natürlich gab es Ausbrüche, in Kindergärten und Pflegeheimen – aber das gab es überall, so etwas zu unterbinden, ist nicht möglich. Wir hatten zwischenzeitlich hohe Fallzahlen in der Stadt, aber auch das ist an anderen Orten passiert. Übrigens wissen wir immer noch nicht genau, woran das in Kornwestheim genau lag.

Hätte man beim Thema Testzentren denn nicht früher in die Puschen kommen müssen?

Ja, man hätte früher kommunale Testzentren aufbauen können, da waren andere etwas schneller. Auch an mich wurde Frust herangetragen von Menschen, die es nicht gut fanden, dass sie nach Ludwigsburg oder Stuttgart zum Testen fahren mussten. Aber man muss bedenken: Eine Pandemie gehört nicht zum Alltagsgeschäft einer Stadtverwaltung. Corona ist etwas völlig Neues. Es ist nicht immer einfach, die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. Das sieht man auch beim Hochwasser im Rheinland. Wir sind technisch top ausgestattet in Deutschland, es gab Frühwarnsysteme. Trotzdem ist es eskaliert. Hoffentlich wissen wir beim nächsten Hochwasser und der nächsten Pandemie, wenn es noch einmal zu einer kommen sollte, dann besser, was wir zu tun haben. Generell hat unsere Stadtverwaltung in der Pandemie bisher einen ordentlichen Job gemacht.

Lassen Sie uns über einen anderen schwierigen Job sprechen – die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum…

Ich glaube nicht an bezahlbaren Wohnraum.

Sollen die Menschen möglichst teuer wohnen?

Natürlich nicht, das war etwas spitz formuliert. Aber wir müssen auch realistisch bleiben. Schauen wir mal auf wirtschaftliche Abhängigkeiten, als Betreiber eines Handwerksbetriebs bin ich da ja nahe dran. Wir können in Deutschland vieles nicht mehr selbst produzieren, die Lager sind leer. Rohstoffe werden teurer. Der Markt bereinigt sich, die Dumpingpreise verschwinden. Und: Es fehlt Platz zum Bauen. Noch dazu gibt es Bauträger, die wirklich nur nach Profit gucken. Und dann reden wir immer noch von günstigem Wohnraum rund um Stuttgart?

Auch Kornwestheim versucht, Hebel anzusetzen, wo es eine Kommune eben kann…

Wir haben jetzt einen Mietspiegel, klar. Und wir haben in Kornwestheim einen Beschluss gefasst, dass bei Neubauten ein Teil der Wohnungen nicht über diesem Mietspiegel liegen darf. Aber heißt das auch günstig oder bezahlbar? Das ist trotzdem für viele Menschen teuer. Und die Immobilienfirmen legen das natürlich auf andere Wohnungen um, die sind dann nochmal teurer.

Sie sind Liberaler: Glauben Sie nicht an die Selbstregulierung des Marktes?

Ich nicht so sehr – zumindest nicht beim Thema Wohnungsbau. Ich kritisiere, dass im Bausegment keine Solidarität vorherrscht. Vielleicht tun wir erst einmal etwas gegen Fehlbelegungen. Es gibt Menschen, die in diesem günstigeren Wohnraum leben, teils auch anfangs berechtigt. Aber nun könnten sie sich auch eine andere Wohnung leisten, bleiben aber trotzdem dort. Realistisch umsetzbar ist bezahlbarer Wohnraum aber aus meiner Sicht in einer Metropolregion wie unserer kaum. Darauf müssen wir uns einstellen.

Aber wenn es ans Bauen geht: dann Innenstadtverdichtung oder grüne Wiese?

Ich persönlich sage: grüne Wiese. Und Aufstocken. Was Neubauten angeht, sage ich: Hände weg von der Innenstadt. Hier sollten wir lieber wieder neue Grünflächen schaffen, mit Blick auf Aufenthaltsqualität und Stadtklima. Schauen wir mal auf die klimatischen Auswertungen in der Kornwestheimer Innenstadt. Der Bereich um Bahnhofstraße und Holzgrundplatz ist knallrot. Keiner will hier im Sommer wohnen. Es ist heiß, es macht keinen Spaß. Natürlich ist es wichtig, auch Naherholungsgebiete zu haben, wo die Menschen laufen und Radfahren können. Aber wo sind die Menschen denn täglich? In ihren Wohnungen. Dort müssen sie sich wohlfühlen.

Ist es gut, in einen gemeinsamen Innenstadtentwicklungsprozess einzutreten, wie es Kornwestheim nun tun will?

Das Zauberwort ist gemeinsam. Jede Fraktion hat sich vorab schon intensiv Gedanken gemacht, und nun reden wir darüber - strukturiert. Wir holen Meinungen von allen Bürgern ein, sprechen mit Gewerbetreibenden, Migranten, jungen Menschen, älteren Menschen darüber, wie sie sich ihre Stadt vorstellen. Ja, all das ist gut. Wir werden zu einer Basis gelangen, um grundlegend etwas zu bewegen und zu entscheiden. Manche sagen, das wird nichts bringen. Ich glaube: Doch, das wird es.

Sollte die Stadt autofrei werden oder nicht?

Als FDP sagen wir: Autofahren muss möglich sein. Ich fände es toll, wenn wir so eine Art Seestraße wie in Ludwigsburg wären – aber das sind wir nicht. Wir können keine autofreie Innenstadt planen, zumindest noch nicht. Dafür fehlt uns die Gewerbestruktur, die Vielfalt der Geschäfte. Noch dazu gibt es in der Bahnhofstraße Ärzte, Physiotherapie, Altenpflege. Die Menschen, die dorthin müssen, sind oft nicht mobil. Die kann man nicht zu Fuß durch die halbe Innenstadt schicken. Vielleicht wäre irgendwann ein Konzept mit beschränkter Vorfahrt oder einer teilweisen Fußgängerzone eine Möglichkeit, von der Güterbahnhofstraße bis zum Trölsch. Das wäre ein Kompromiss, über den wir zumindest ins Gespräch kommen wollen würden.

Stadtrat, Kreisrat, junger Vater

Ender Engin
ist erst 2019 kommunalpolitisch in Erscheinung getreten – aber mit Wucht. Der 32-jährige Liberale wurde zugleich in den Ludwigsburger Kreistag und in den Kornwestheimer Gemeinderat gewählt. In letzterem ist er Stellvertreter von Andreas Schantz als Fraktionsvorsitzender. An der FDP gefallen ihm, so Ender Engin, die „realistischen Ansätze“ und die „gesunde Mitte“. In der Stadt bekannt ist Engin auch als Geschäftsführer des gleichnamigen Elektro-Betriebs. Bald wird er zum zweiten Mal Vater – Baby zwei sei unterwegs, sagt er.