Bild aus vergangenen Tagen des Altkanzlers Kohl Foto: Getty

Was wie Helmut Kohls Abrechnung wirkt, ist nur angeschimmeltes Nachtreten, analysiert unser Kommentator Wolfgang Molitor

Stuttgart/Berlin - 600 Stunden. Das hört sich gut an. Nach gegenseitiger Nähe, nach persönlichem Einvernehmen und journalistischem Tiefgang. 600 Stunden hat der Geistschreiber Heribert Schwan investiert, um Helmut Kohl, dem gefallenen Einheits-Engel, Ohr und Stift zu leihen, um abzurechnen. Ein vernichtendes Urteil zu fällen über all jene, von denen sich der Ex-Kanzler hintergangen, betrogen, ausgenutzt und verraten fühlte, als man ihn, den Reuelosen, allein ließ mit seinem unappetitlichen Spendenskandal. Abgeschoben und kaltgestellt. Abgehoben und zornesheiß.

Geschwätz von gestern. Um mehr geht es nicht, was Schwan und sein Kollege Tilman Jens jetzt zwischen zwei Buchdeckel gepresst haben. 600 Stunden zwischen 2001 und 2002. Lang ist’s her. Was wie eine vernichtende Offenbarung über meist von der politischen Bildfläche verschwundene CDU-Granden wirken soll, ist nichts weiter als der Beißreflex eines Machtverwöhnten, der seinen unrühmlichen Abgang aus der Tagespolitik als Vorstufe einer dauerhaften Verbannung aus dem Tempel der Geschichte empfand. Eine selbsttrügerische Momentaufnahme. Der Aktualität längst entglitten.

Was will Schwan damit sagen, bewirken? Was soll Kohls kläffender Furor erhellen, der den Gesprächen zwar erkennbar eine klare journalistische Linie und unmissverständliche Nachwelt-Botschaft vorzugeben versucht, aber eben nicht mehr war als das. Kein kühl einordnendes Zitat, keine knallharte Analyse. Stattdessen kaum mehr als der Eindruck von gekränkter Eitelkeit und unendlichem, von vulgärem Ton orchestriertes Selbstmitleid. Schwan streitet nicht ab, dass das, was Kohl ihm da anvertraute, zwar authentisch, aber nicht offiziell war. Er habe trotzdem keinen Vertrauensbruch begangen, hat Schwan gestern erklärt. Schließlich habe es keine Vereinbarung mit Kohl gegeben, Teile des Gesprächs vertraulich zu behandeln. Die aber war damals wohl auch nicht nötig, als Kohl und Schwan noch eng verbunden waren. Der Ex-Kanzler ging offenbar davon aus, sich auf Schwans berufsethische Diskretion auch ohne Schweigegelübde verlassen zu können. Man muss sich nicht an Gerhard Schröders grobes Wort vom „Schweinejournalismus“ erinnert fühlen – aber dass es aus Schwans Buch zum Himmel stinkt, wer wird das nicht riechen?

Geschwätz von gestern. Kohls Urteil über Angela Merkel, zwölf Jahre alt und schon damals ein Jahrzehnt zurückliegend, offenbart die von persönlichen Verletzungen überlagerte Substanzlosigkeit der Kritik. Wie auch die maßlos formulierte Enttäuschung über einen wie Wolfgang Schäuble, dessen schützende Hand Kohl verbohrt nicht zu verstehen im Stande war. Die Entwicklung der CDU zeigt, dass Kohl, der Nachtragende, falschgelegen hat.

Heribert Schwan versteht sein Buch als Kampfansage gegen Kohls zweite Ehefrau Maike Kohl-Richter, die bis zur Rücksichtslosigkeit die Deutungshoheit über die Kanzlerschaft ihres Mannes zu erringen versucht. Dieses Gespons-Feindbild macht Schwans Buch zu einem rachsüchtigen Machwerk. Mit ein paar netten Gemeinheiten unter Parteifreunden, aber wertlos über den Tag hinaus. Selbst der intime Blick hinter die Kulissen der Macht ist da nicht mehr als peinliches Nachtreten – auf beiden Seiten.

600 Stunden, genüsslich auf ein paar zänkisch-beleidigende Attacken zusammengeschnurrt: Auch deshalb wird Schwans Buch nicht mehr als eine Randnotiz bleiben. Geschwätz von gestern.

w.molitor@stn.zgs.de