Talibankämpfer erobern einen Großteil der afghanischen Stadt Kundus. Foto: dpa

Rebellen erobern Kundus – eine Niederlage, auch für die internationale Gemeinschaft. 54 deutsche Soldaten sind in Afghanistan gefallen – wofür? Ein Kommentar von Wolfgang Molitor.

Kundus ist in die Hände der Taliban gefallen. Zum ersten Mal seit der US-geführten Invasion 2001 ist es den Radikalislamisten gelungen, ein Stadtgebiet zu erobern. Sie errichten Kontrollpunkte und patrouillieren durch die 300.000-Einwohner-Stadt, eine der wohlhabendsten in ganz Afghanistan. Rund 600 Häftlinge sind aus dem Gefängnis befreit, darunter 144 Taliban-Kämpfer.

Eine Gegenoffensive der Regierung läuft, das US-Militär fliegt Luftangriffe auf Kundus, und Afghanistans Präsident Aschraf Ghani verspricht die Rückeroberung. Das Übliche. Chaos, Unberechenbarkeit, ein Treffen des nationalen Sicherheitsrates – Afghanistan ist nicht zu retten.

Kundus ist gefallen. Die Stadt, in der die Bundeswehr nach Ausweitung des Isaf-Einsatzes im Oktober 2003 erstmals Aufgaben außerhalb Kabuls übernommen hatte. Anfangs Brunnen baute, bevor sie ab 2009 schoss und bei einem Luftangriff bis zu 142 Afghanen getötet wurden. Aus der sie zehn Jahre später nachdenklich abzog. Wo allein 18 deutsche Gefallene zu beklagen waren, so viele wie nirgendwo anders seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 18 von insgesamt 35 bei Anschlägen und Gefechten getöteten Bundeswehr-Soldaten. 19 weitere starben bei Unfällen und durch Selbstmord. Nach Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft kostete der Wiederaufbau Afghanistans Deutschland volkswirtschaftlich rund 17 Milliarden Euro. Wofür? Die Frage lastet schwer auf Deutschland.

Jetzt haben die Taliban in Kundus das Sagen

„Kundus, das ist für uns der Ort, an dem die Bundeswehr zum ersten Mal gekämpft hat und lernen musste zu kämpfen“, sagte Thomas de Maizière zehn Jahre später als Verteidigungsminister zum Abschluss des Einsatzes. „Das war eine Zäsur nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Gesellschaft.“ Wohl wahr. Kundus steht nicht zuletzt dafür, dass Deutschland wieder bereit ist, nach dem Kosovo-Einsatz auch außerhalb Europas militärisch Verantwortung zu übernehmen. Eine Expeditionsstreitmacht zu sein. Wie Briten und Franzosen.

„Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt.“ Der spontane Satz des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck vom Februar 2002 gilt als Zäsur in der deutschen Außenpolitik. Jetzt haben die Taliban in Kundus das Sagen. Afghanistan hat sich nicht entwickelt, ist demokratisch nicht gereift, wirtschaftlich instabil, politisch unberechenbar. Die afghanischen Kräfte seien in der Lage, eigenständig die Sicherheit zu garantieren, hatte der Isaf-Kommandeur Nord, General Erich Pfeffer, bei der Übergabe verkündet. Wunschdenken wie so oft, wenn man es mit Drogenbaronen und Milizenchefs zu tun hat.

Sieht so die Bilanz aus, wenn versucht wird, das Leben der Menschen so sicher zu machen, dass sie ihre Heimat nicht verlassen müssen? Ist das der Weg, auch mit Waffen Frieden schaffen zu wollen, der nach einem Abzug brüchig, illusionär ist? Weil er an den Gegebenheiten vor Ort scheitern muss? Die Lage in Kundus drohe den Fortschritt, den Afghanistan bei der Wiederherstellung von Frieden, Stabilität und Rechtsstaatlichkeit gemacht hat, ernsthaft zu untergraben, sagt der UN-Hochkommissar für Menschenrechte. Und fürchtet, dass noch mehr Zivilisten zu Schaden kommen – und nach Europa wollen. Afghanen sind nach Syrern schon jetzt die größte Flüchtlingsgruppe. Der Fall von Kundus werde also „enorme Auswirkungen“ auch auf Baden-Württemberg haben, sagt der Leiter der operativen Stabsstelle, Hermann Schröder.

Jetzt ist Kundus wieder Taliban-Land. Ein Friedhof westlicher Werte. Und die Frage nach 13 Jahren Krieg ist drängender denn je: 3485 Nato-Soldaten, mehr als 4600 afghanische Polizisten, 70 000 Zivilisten – wofür sind sie gestorben?