Halbstarke Kolkraben sind häufig in Gruppen unterwegs, um Kadaver gegen die erwachsene Konkurrenz zu verteidigen. Foto: dpa

Kolkraben haben eine Vorliebe für Regenwürmer und Aas. Die seltenen Singvögel sind harmlos, doch Brandenburger Bauern klagen darüber, dass sich die Vögel auf wehrlose Kälber stürzen.

Perleberg/Stuttgart - In Nordbrandenburg sollen Gruppen von Kolkraben neugeborene Kälber angegriffen und einige Tiere getötet haben. Die dortigen Landwirte behaupten, dass die großen schwarzen Rabenvögel ihre Rinderherden auf den Weiden bis aufs Blut piesacken würden. Nun fordern sie die Landesregierung in Potsdam zum Handeln auf und verlangen die streng geschützten Vögel zur Jagd freizugeben.

Töten Kolkraben Kälber und Lämmer?

Der Verhaltensbiologe Dieter Wallschläger, ein emeritierter Zoologie-Professor von der Universität Potsdam, sieht die imposanten Vögel falschen Verdächtigungen ausgesetzt. „Kolkraben sind gar nicht in der Lage, ein lebendes Kalb anzugreifen“, erklärt er. Über Jahrzehnte hat er die Vögel und ihr Zusammenleben mit Rindern und Schafen auf der Weide wissenschaftlich erforscht. Wallschläger war es auch, der Mitte der 1990er Jahre mit Kollegen ein Gutachten im Auftrag des brandenburgischen Umweltministeriums erstellte. Tausende Stunden von Videomaterial belegen, dass an den Grusel-Storys über gefährliche Kolkraben nichts dran ist.

In dem Gutachten, das unserer Zeitung vorliegt, kommen die Experten zu dem Schluss: „Die Tötung gesunder Tiere ist bisher nicht beobachtet worden. Raben sind nicht in der Lage, gesunde, vitale Kälber oder gar erwachsene Rinder oder Schafe zu töten. Bei Lämmern erscheint es theoretisch denkbar, wurde aber in den vorliegenden, sehr umfangreichen Untersuchungen nicht nachgewiesen.“

Kolkraben-Attacken auch in Baden-Württemberg

Auch in Baden-Württemberg gab es in den vergangenen Jahren vereinzelte Berichte über Kolkraben-Angriffe auf Lämmer. Nachdem sich Schäfer von der Schwäbischen Alb beschwerten hatten, dass angebliche Gruppen von Raben ihre Lämmer tot pickten, forderte die grün-rote Landesregierung Unterstützung aus Hamburg an. Seit 2014 arbeitet der Ornithologe Veit Hennig vom Zoologischen Institut der Universität der Hansestadt an einem Gutachten über die Umtriebe der Kolkraben auf der Alb.

„Die Untersuchung läuft noch. Sie ist verlängert worden bis Ende 2016, weil es zu wenig Fälle gibt, die verwertbar sind“, sagt der Hamburger Ornithologe. Hennig hat gerade mal zwei schriftliche Meldungen über Kolkraben-Attacken erhalten – und das ein halbes Jahr nach den eigentlichen Vorfällen. „Es ist kein dramatisches, sondern ein lokales Problem.“

Die beiden Fälle aus dem Schwarzwald und von der Schwäbischen Alb seien allerdings „heftig“ gewesen, berichtet der baden-württembergische Landesvorsitzende des Nabu (Naturschutzbund Deutschland), Andre Baumann. „Es gibt tatsächlich Schäden durch Kolkraben an Lämmern. Man kann aber nicht eine streng geschützte Tierart wie die Kolkraben abschießen. Andererseits haben wir eine Verantwortung gegenüber den Schäfern.“ Die entscheidende Frage sei aber: „Haben die Raben tatsächlich Jungtiere getötet oder lag Aas auf der Weide, an dem die Vögeln herumhackten?“

Halbstarke Kolkraben

In beiden Fällen im Südwesten, so Baumann, seien es Gruppen von Jung-Raben, die Weibchen imponieren wollten. Ihnen müsse man das „Lämmer-Reiten“ austreiben. Doch wie? Abschießen geht nicht, weil das Bundesnaturschutzgesetz Kolkraben zu den in Deutschland besonders geschützten Arten zählt. Im Bundesjagdgesetz wird er zwar als jagdbare Art gelistet, doch es gilt eine ganzjährige Schonzeit. Dazu Nabu-Landesvorsitzende Baumann: „Die bloße Anwesenheit des Menschen reicht aus, um die Vögel zu vertreiben. Auch durch Anschreien könne man die schlauen Tiere in Schreck versetzen.“

Veit Hennigs bisherige Erkenntnisse aus baden-Württemberg bestätigen die Potsdamer Studie von Wallschläger. Das Anpicken von Schwänzen könne kranke und geschwächte, aber auch vitale Lämmer treffen. Speziell bei Lämmern könnten Teil-Lähmungen auftreten, erklärt der Hamburger Ornithologe. „Das ist aber nicht tödlich. Zum Teil geht es um ein Austesten der Vitalität der Jungtiere.“

Interessanterweise sind es demzufolge immer dieselben Schäfer, die betroffen sind. Dass könnte daran liegen, dass sich Raben an bestimmte Herden binden. Verendete Tiere, liegengebliebene Nachgeburten oder Reste von Kraftfutter – all dies könnte ein Grund dafür sein, dass Raben bestimmte Orte bevorzugen.

Gerüchte, aber keine Beweise

Gerüchte über mordlustige Raben gibt es viele, aber kaum stichhaltige Beweise. Tatsächlich war auch an den brandenburgischen Vorkommnissen aus den 1990er Jahren kaum etwas dran. Lediglich acht Betriebe konnten ausfindig gemacht werden, in denen tatsächlich Probleme durch Kolkraben bestanden. Dies hatte aber damit zu tun, dass die Züchter tote Tiere nicht weggeräumt und gezielt Tierkörper für die Raben ausgelegt hatten oder Futter offen herumliegen ließen.

Mit Hilfe der Videoaufnahmen fanden die Potsdamer Experten heraus, dass es eine Vielzahl von Interaktionen zwischen Raben und Weidetieren gibt. „Diese werden fast immer von den Raben initiiert und sind den Funktionskreisen Nahrungs-, Erkundungs- und Spiel verhalten zuzuordnen“, heißt es im Abschlussbericht des Instituts für Zoologie der Universität Potsdam. Die meisten Kontakte zwischen Raben und Weidetieren seien friedlicher Art.

Kolkraben und Weidetiere

Spannende Wechselbeziehung zwischen Tierarten

In der Studie „Kolkraben und die Freilandhaltung von Weidetieren“ heißt es weiter: „Das gezielte Beibringen von Verletzungen, teils im Zuge länger währender Attacken, konnte nur ausnahmsweise bei erkrankten Tieren bzw. nicht lebensfähig geborenen Jungtieren beobachtet werden, in Einzelfällen aber auch bei Jungtieren ohne mütterliche Betreuung. Im Rahmen ihres Erkundungsverhaltens testeten die Raben systematisch die Vitalität der Tiere aus. Gezieltes Picken bei gesunden Kälbern und Lämmern, überwiegend während des Schlafens, wurde jedoch sofort eingestellt, wenn die Tiere darauf deutlich reagierte . . . 

Nicht jedes Picken oder Zupfen dient jedoch dem Austesten der Vitalität der Tiere – überwiegend handelt es sich um das Aufnehmen von Nahrung in Form von angetrocknetem Kot, Geburtsschleim, blutigem Schorf nach dem Einziehen der Ohrmarken oder aber am Körper befindlichen Insekten. Bemerkenswert ist das bewusste Auslösen von Harnen und Koten bei Kälbern, indem die Raben diese durch gezieltes Zupfen, Kneifen oder auch Hacken zum Aufstehen bewegen und so für sich eine energie- und mineralreiche Nahrungsquelle erschließen.“

„Tötung gesunder Tiere ist bisher nicht beobachtet worden“

An anderer Stelle des Potsdamer Gutachtens heißt es: „Tatsächliche Probleme bestehen weniger in Tierverlusten oder gar Massenverlusten, sondern mehr in Störungen, vor allem im Zeitraum der Geburt, sowie in Verletzungen erkrankter oder anders gehandicapter Tiere. Diese Verletzungen können allerdings schwerwiegend sein und bei Tieren, die ohnehin krank oder geschwächt sind, bis zum Tod führen.“

Fazit der Potsdamer Vogelforscher: „Die Tötung gesunder Tiere ist bisher nicht beobachtet worden. Raben sind nicht in der Lage, gesunde, vitale Kälber oder gar erwachsene Rinder oder Schafe zu töten. Bei Lämmern erscheint es theoretisch denkbar, wurde aber in den vorliegenden, sehr umfangreichen Untersuchungen nicht nachgewiesen.“

Raben mussten – ähnlich wie Wölfe – schon für viele Missetaten herhalten. Erinnert sei nur an Wilhelm Buschs (1832-1908) lausbubenhafte Bildergeschichte vom gefiederten Bösewicht Hans Huckebein (erstmals veröffentlicht in den Blättern: „Über Land und Meer“, Stuttgart, 1867/1868).

Der Knabe Fritz findet im Wald einen jungen Raben und nimmt ihn mit nach Hause. Doch das clevere Tierchen hat’s faustdick hinter dem Schnabel. Erst zerdeppert Hans Huckebein den halben Haushalt der Tante. Dann klaut er dem Spitz seinen Schinkenknochen, macht sich über das frisch gekochte Heidelbeerkompott her und tappt über Tantchens frische Bügelwäsche.

Als er sich schließlich über den Likör hermacht und genüsslich das Glas leert, kommt das dicke Ende. Volltrunken torkelt er herum, wirft die Likörflasche vom Tisch und verheddert sich im Strickzeug der Tante. Hans Huckebein endet kläglich, indem er sich mit dem Garn selbst stranguliert. Über des Raben Ableben reimt Wilhelm Busch:

Hans Huckebeins schmachvolles Ende

„Und Übermut kommt zum Beschluss, Der alles ruinieren muss.

Er zerrt voll roher Lust und Tücke Der Tante künstliches Gestricke.

Der Tisch ist glatt – der Böse taumelt –

Das Ende naht – sieh da! Er baumelt.

‚Die Bosheit war sein Hauptpläsier,

Drum‘, spricht die Tante, ‚hängt er hier!‘“