Häufig wird Botox – wie hier – gegen Falten gespritzt. Im Klinikum Esslingen wird der Wirkstoff dagegen als Medikament eingesetzt. Foto: dpa

Botox kennt man – aus der Welt der Reichen und Schönen. Aus den Klatschspalten ist bekannt: Das Nervengift ist geeignet, Falten auszumerzen und Lippen aufzupolstern. Jetzt wird Botox auch am Klinikum Esslingen (KE) eingesetzt – aber für ganz andere Zwecke.

Botox kennt man – aus der Welt der Reichen und Schönen. Aus den Klatschspalten ist bekannt: Das Nervengift ist geeignet, Falten auszumerzen und Lippen aufzupolstern. Jetzt wird Botox auch am Klinikum Esslingen (KE) eingesetzt – aber für ganz andere Zwecke.

Esslingen - Um es vorwegzunehmen: Wer sich Hoffnungen macht, Oberärztin Annette Niessen würde sich den lästigen Stirnfalten widmen, wird enttäuscht. Jeder Anruf ist zwecklos. „Es geht hier ausschließlich um neurologische Indikationen“, sagt die 42-Jährige. Seit April 2013 ist sie am KE, seit diesem Jahr hat sie die Zulassung , Patienten mit Botulinumtoxin (Botox) zu behandeln – Ende des Monats wird sie die ersten Patienten unter ihre Fittiche nehmen.

Ein Neuling in dieser medizinischen Sparte ist Niessen nicht: Mehr als zehn Jahre war sie als Fachärztin am Stuttgarter Bürgerhospital tätig, wo Oberarzt Axel Börtlein Botox einsetzt. Jetzt hat sie genügend Erfahrung, mit Botox umzugehen, das natürlicherweise von einem Bakterium gebildet wird und als das stärkste Nervengift überhaupt gilt. Schon ein Milligramm davon wäre tödlich, bei der Botoxbehandlung werden viel kleinere Dosen – Nanogramm – gespritzt. Grundsätzlich geht es darum, Muskeln, die verkrampft oder angespannt sind, zu lösen. In schlimmen Fällen können die Patienten sogar einzelne Gliedmaßen – Arme oder Beine – nicht mehr nutzen, weil die Muskeln streiken. Durch die Fehlhaltung verfestigt sich das Bindegewebe, die Gelenke werden abgenutzt, und die Sperre bleibt – dazu kommen heftige Schmerzen.

So zeigt die Behandlung mit Botox vor allem Erfolge bei Dystonie (Schiefhals) und Blepharospasmus (unwillkürliches Blinzeln). In beiden Fällen liegt die Erfolgsquote bei 90 Prozent. Andere Indikationen sind Spastik, übermäßige Schweißproduktion unter den Achseln und chronische Migräne, wobei chronisch heißt, an mehr als 15 Tagen im Monat.

Oft ist völlig unklar, woher bestimmte Beschwerden kommen. Der Schiefhals etwa kann auf einer genetischen Veranlagung beruhen, muss aber nicht. Erwachsene bemerkten irgendwann, dass der Kopf nach rechts oder links dreht und sich eventuell neigt, schildert Niessen die Beschwerden. Mit Botox wird erreicht, dass die verkrampfte Muskulatur geschwächt wird. Das Gleiche gilt für das unwillkürliche Blinzeln. „Das kann bis zur Blindheit gehen“, sagt die Medizinerin. In diesem Fall hat der Patient die Augen krampfhaft fast dauerhaft geschlossen. Die Spritze(n) werden in den Ringmuskel ums Augen oder direkt ins Augenlid gesetzt, dadurch wird die Überaktivität beruhigt.

Eine spastische Muskeltonuserhöhung kann bei multipler Sklerose oder nach einem Schlaganfall auftreten. Dann kann Botox praktisch am ganzen Körper eingesetzt werden. Linderung schafft es außerdem bei sehr starkem Schweißfluss unter den Achseln und bei Speichelfluss, etwa bei Parkinson. Auch bei Schluckstörungen nach einem Schlaganfall wird Botox verabreicht: Es wird dann in die Speicheldrüsen vor den Ohren und unter dem Kinn injiziert. Bei chronischer Migräne hilft es Patienten, bei denen Tabletten nicht (mehr) wirken.

Grundsätzlich wirkt das Nervengift nur drei Monate – es muss also viermal im Jahr gespritzt werden. Der Vorteil: Obwohl es eine Dauertherapie ist, gibt es keine Spätfolgen, das Gift wird komplett abgebaut. „Zunächst wird ohnehin vorsichtig dosiert“, sagt Niessen. Nebenwirkungen kann sie dennoch nicht ausschließen. Das können Lähmungen sein, Schluckprobleme, ein schwerer Kopf, hängende Augenlider, trockene Haut – je nachdem, wo Botox gespritzt wurde. „Botox wirkt nur lokal, dort, wo man es hinspritzt, und dient der Schwächung der Muskulatur“, sagt die Oberärztin.

In Anspruch nehmen können die Behandlung entweder Privatpatienten oder Kassenpatienten, die vom Hausarzt oder Neurologen überwiesen werden. Annette Niessen klärt dann schon am Telefon ab, ob der Befund überhaupt zu ihrer Behandlung passt. Die Kassen zahlen in aller Regel die Eingriffe.

Was jetzt klingt wie ein ganz neues medizinisches Feld, wird tatsächlich seit Jahren an mehreren Kliniken praktiziert. „1980 wurde Botox erstmals therapeutisch angewandt“, sagt Niessen. Erst zwölf Jahre später kam jemand auf die Idee, das Nervengift auch kosmetisch einzusetzen. Darüber hinaus gibt es noch weitere Wirkungsfelder: So nutzen Urologen die Substanz, etwa um eine Reizblase zu beruhigen.