Am Dienstag kamen erstmals in der Geschichte Israels alle 15 Richter zusammen, um über acht Petitionen gegen eine jüngst verabschiedete Grundgesetzänderung zu beraten. Foto: dpa/Debbie Hill

In Israel hat vor dem Obersten Gerichtshof eine Anhörung zur umstrittenen Justizreform begonnen. Sollten die Richter die Regierungsentscheidung kippen, droht dem Land eine Verfassungskrise.

Das hat es an Israels Oberstem Gericht noch nicht gegeben: Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes betraten am Dienstagmorgen sämtliche 15 Richter den Saal des Gerichts in Jerusalem. Der Anhörung, die gestern begann, schreiben viele Beobachter historische Bedeutung zu: In den kommenden Wochen soll das Gericht über die Rechtmäßigkeit des ersten Elements der umstrittenen Justizreform zu entscheiden – der erste direkte Showdown zwischen Gericht und Regierung im Ringen um den geplanten Umbau der Justiz.

Das Gesetz, das die Richter zu prüfen haben, ist der einzige Teil des geplanten Reformpakets, den Israels Parlament, die Knesset, bislang verabschiedet hat. Es untersagt dem Obersten Gericht, Ministerentscheidungen mit Verweis auf die sogenannte Angemessenheitsdoktrin zu prüfen.

Viele Petitionen

Mehrere Personen und Organisationen hatten nach der Verabschiedung des Gesetzes Ende Juli Petitionen beim Obersten Gericht eingereicht: Es verletze das Prinzip der Gewaltenteilung und sei zu eng auf die Wünsche der Regierung zugeschnitten. Die 15 Richter sind nun in der delikaten Situation, über die Beschneidung ihrer eigenen Macht urteilen zu müssen.

Dabei geht es um mehr als die Angemessenheitsdoktrin, die selbst unter regierungskritischen Juristen nicht unumstritten ist, wie der Rechtsexperte Barak Medina von der Hebräischen Universität in Jerusalem erklärt. Die wahre Bedeutung der Anhörung liegt seiner Meinung nach in einer grundsätzlicheren Frage: Darf der Gerichtshof ein Grundgesetz für ungültig erklären?

„In dieser Hinsicht ist das Gerichtsurteil von kritischer Bedeutung“, sagt Medina. „Denn sollte das Gericht entscheiden, dass die Knesset bei der Verabschiedung von Grundgesetzen unbeschränkte Macht hat, bedeutet das, die Knesset kann tun und lassen, was sie will.“

Vertreter der Regierung dagegen argumentieren, dem Obersten Gericht fehle zu einer Einmischung die demokratische Legitimation. „Allein schon die Diskussion über die Möglichkeit, Grundgesetze für ungültig zu erklären, die auf der Spitze der legalen Pyramide stehen“, bedeute einen „schweren Schlag für die Herrschaft des Volkes“, sagte Israels Justizminister Yariv Levin. Ebenso argumentierte Simcha Rothman, Abgeordneter der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus und einer der Architekten der geplanten Justizreform, während der Anhörung.

Bis zum Urteil kann es länger dauern

Nicht alle Richter ließen sich davon überzeugen. Und wenn das Parlament ein Grundgesetz beschließe, „das Araber das Wahlrecht wegnähme oder Wahlen um zehn Jahre verschöbe, was dann?“, fragte die Richterin Anat Baron. Rothman blieb eine klare Antwort schuldig. Die Lösung sei jedenfalls nicht „in den Händen einer Gruppe von Personen“ zu finden, die „der Öffentlichkeit nicht durch Wahlen verpflichtet“ seien.

Bis zur Entscheidungsfindung kann es Wochen, wenn nicht Monate dauern, je nachdem, ob die Richter einen Konsens finden, oder jeder von ihnen seine eigene Urteilsbegründung schreibt, wie Medina erklärt.

Der Experte hält es für „sehr wahrscheinlich“, dass das Gericht das Gesetz für ungültig erklären wird. „Ich glaube, dass das Gericht die Bedeutung dieser Entscheidung versteht.“ Für den Fall, dass das Gericht das Gesetz nicht antasten sollte, bestimme dies zwar noch nicht über die Zukunft der Demokratie. Die Aktivitäten der massiven Protestbewegung, die sich gegen die Justizreform gebildet hat, würden allerdings „sehr viel intensiver und radikaler werden, als sie es bisher waren.“

Sollte das Gericht das Gesetz kippen, könnte die Lage jedoch ebenfalls eskalieren. Denn Netanjahu und die meisten seiner Minister wollen sich öffentlich nicht festlegen, ob sie ein solches Urteil akzeptieren würden – mit unabsehbaren Folgen: In einem direkten Konflikt zwischen Gericht und Regierung müsste jede Institution des Staates, Polizei und Armee eingeschlossen, entscheiden, wem ihre Loyalität gilt.

Dass es tatsächlich so weit kommt, hält Medina für unwahrscheinlich. Doch dass das Szenario überhaupt im Raum steht, zeigt, was in Israel in diesen Tagen auf dem Spiel steht.