Die Patinnen Gaby Müller (vorn) und Heidi Altmann sind hier für das Projekt Sonnenkinder unterwegs und kümmern sich um Estelle (vorn) und Jasmin Foto: Leif Piechowski

Familien sind zunehmend finanziell überfordert oder den Alltagsaufgaben nicht gewachsen. Das Stuttgarter Jugendamt braucht deshalb mehr Personal. Je früher der Kontakt, desto größer der Erfolg. Deshalb wirbt das Amt bei den Stadträten für den Ausbau der so genannten Frühen Hilfen.

Stuttgart - Es war nachts um 23 Uhr, als eine Polizeistreife am Neckartor einen Dreijährigen sichtete. Der Junge, nennen wir in Niko, hatte einen Schlafanzug an und war unterwegs in Richtung Stadtmitte. Seine Mutter hat sein Verschwinden nicht bemerken können; sie war nicht zu Hause. Damit waren die beiden ein Fall fürs Jugendamt.

1097 Mal haben im Jahr 2013 die Sozialarbeiter in familiäre Verhältnisse Einblick nehmen müssen, weil das Wohl eines Kindes gefährdet war. Mit 13 106 Familien standen die Beratungszentren des Jugendamts im selben Zeitraum in Kontakt. Und in den meisten Fällen konnte Schlimmeres verhindert werden. Allerdings reifte über die Jahre die Einsicht, dass vor allem dann geholfen ist, wenn die Eltern von Anfang an gestärkt werden und wissen, an wen sie sich im Notfall wenden können. Daraus entstand im Oktober 2010 die führe Förderung von Familien in Stuttgart.

Diese soll nun ausgebaut werden. Künftig, so sieht es das Jugendamt vor, sollen nicht nur im Marienhospital und in der St.-Anna-Klinik, sondern auch in der städtischen Frauenklinik, im Robert-Bosch-Krankenhaus und im Charlottenhaus die Mütter und Babys besucht werden, um Kindeswohlgefährdungen auszuschließen.

Als sich Niko auf den Weg machte, gab es diese Hilfen noch nicht. Die Jugendamtsmitarbeiter fanden die Wohnung verwahrlost und verräuchert vor. Weder war der Frau bewusst, dass ihr Kind dadurch gesundheitlich gefährdet war, noch, dass sie in ihrem Wohnquartier Kontakte hätte knüpfen können zu anderen Frauen, zu Senioren, zu Beratungsstellen. Dann wäre Niko vermutlich keinen einzigen Abend unbeaufsichtigt gewesen.

Die Nachfrage steigt

Seit 2010 heißt das Jugendamt nämlich alle Familien willkommen. Jede Familie mit einem Neugeborenen wird besucht, erhält ein Kapuzenbadetuch mit Stuttgarter Rössle drauf und das Elternbegleitbuch, das eine erste Orientierungshilfe über die Angebote für Familien in Stuttgart gibt. 2014 hat das Amt für öffentliche Ordnung 6007 Familien mit Neugeborenen registriert.

Dem Willkommensbesuch folgen bei Bedarf weitere Informationen und Angebote zur Familienbildung oder Entlastung (siehe nebenstehende Information), doch inzwischen ist das Personal überfordert: Die Nachfrage steigt. 439 Teilnehmer haben Kurse in Haushaltsmanagement, Kinderpflege, für getrennt lebende Paare und ähnliche besucht. Diese Zahl bezieht sich lediglich aufs erste Vierteljahr 2015. Zum Vergleich: Im gesamten Vorjahr waren es 593 Teilnehmer.

Bausteine der frühen Hilfen sind auch Familienhebammen, Familienkinderkrankenschwestern und Familienpfleger. 137 Familien haben sie anfangs in Anspruch genommen, inzwischen sind es 320 pro Jahr. „Das Angebot wird unter den Familien immer bekannter“, stellt die Verwaltung in einer Mitteilungsvorlage fest.

Darin verweist die Fachverwaltung auf den Unterstützungsbedarf, den 500 von 6500 Familien sofort nach der Geburt hatten – weil das Wohl der Kinder gefährdet war. Seit 2011 betreuen Mitarbeiterinnen von Caritas, vom Sozialdienst katholischer Frauen und zahlreiche ehrenamtliche Paten rund ein Viertel dieser Familien vom Wochenbett an. Sie begleiten und besuchen die jungen Mütter und Babys ein Jahr lang. Sonnenkinder heißt dieses Projekt, bei dem die Träger mit den Geburtskliniken St. Anna in Bad Cannstatt und mit dem Marienhospital im Süden zusammenarbeiten.

Das Institut für angewandte Sozialwissenschaften an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg hat die Arbeit des Sonnenkinder-Teams begleitet. Viele Frauen, die das Angebot annehmen, gehören so genannten Risikogruppen an: Sie sind minderjährig oder sehr jung und oft alleinerziehend. Nikos Mutter hätte in dieses Raster gepasst.

Der Vergleich mit den tatsächlichen Geburtenzahlen in den jeweiligen Kliniken zeigt, dass die Mitarbeiterinnen im Zeitraum Januar 2013 bis Juni 2014 bei etwa 90 Prozent aller Mütter, die ihr Kind dort zur Welt gebracht haben, Willkommensbesuche gemacht haben – rund 1600 Mal. In 348 Fällen wurden die Mütter nach der Klinikentlassung weiter begleitet.

„Wir wollen dieses Angebot auf alle Stuttgarter Geburtskliniken ausweiten“, sagt Jugendamtsleiter Bruno Pfeifle. Die Aufgabe soll an zwei Teams übertragen werden – an Caritas und ans Jugendamt. Nach Darstellung der Verwaltung müssen für den Ausbau der frühen Hilfen 2,1 Stellen geschaffen werden. Da diese nicht kostenneutral zu besetzen sind, tragen die Chefs des Verwaltungs- und Finanzreferats die Stellenforderung nicht mit. Der Gemeinderat muss also entscheiden, ob dafür Geld verwendet wird. Der Jugendhilfeausschuss wird am heutigen Montag darüber informiert.

Info: Frühe Förderung von Familien in Stuttgart

Seit Oktober 2010 will die Stadt alle Familien niederschwellig erreichen. Im Vordergrund steht der Schutz der Kinder.

Die Bausteine des Konzepts: Willkommenskultur, Familienbildungsangebote, entlastende Angebote und niedrigschwellige zeitnahe Unterstützungsangebote.

Willkommensbesuche des Jugendamts starten vier Wochen nach der Geburt. Familien lernen ihre Kontaktperson der Kinder- und Jugendhilfe kennen.

Für Familien in besonderen Lebenslagen (alleinerziehend, mit Migrationshintergrund, junge Mütter, Sucht) bietet ein Landesprogramm Kurse zur Stärkung der Erziehungs- und Alltagskompetenz.

Die Rucksack-Kurse des Elternseminars der Stadt in Kitas und Grundschulen sollen die Erstsprache von Migrantenkindern und den Erwerb einer Zweitsprache fördern.

Opstapje (Eltern-Kind-Zentrum) heißt das Konzept, bei dem Eltern von Kleinkindern praxisnah unterstützt werden.

Familienhebammen, -krankenschwestern und -pflegerinnen besuchen Familien, wo Bindungsstörungen, gesundheitliche und psychosoziale Belastungen herrschen.

Wellcome (Haus der Familie) und Familienpatenschaften (Sozialdienst katholischer Frauen, SkF) und Initiative Z (Jugendamt) unterstützt mit Ehrenamtlichen die Mütter bei Säuglingspflege und im Alltag.

Mirjam (SkF) fördert arbeitslose Mütter.

Unter dem Namen Sonnenkinder besuchen Sozialarbeiterinnen des SkF und der Caritas alle Gebärenden der Kliniken St. Anna und Marienhospital. Es geht um Fragen der Pflege und Versorgung des Säuglings. Bei weiterem Bedarf werden Mütter und Väter auch zu Hause besucht. (czi)