Mit seiner „Kameliendame“ schuf er einen Welterfolg: der Choreograf John Neumeier. Foto: dpa

Zum 40. Geburtstag ist das vielleicht bekannteste Ballett Neumeiers wieder in Stuttgart zu sehen, wo es 1978 uraufgeführt wurde. Der Hamburger Ballettchef spricht über den faszinierenden Stoff und den internationalen Erfolg seiner „Kameliendame“.

Stuttgart - Am Mittwoch, 16. Januar, kehrt „Die Kameliendame“ auf die Stuttgarter Opernhaus-Bühne zurück. Ein Anlass für John Neumeier, sich an die Entstehung des Balletts zu erinnern.

Herr Neumeier, 1973 versprachen Sie bei der Beerdigung John Crankos in Stuttgart seiner Primaballerina Marcia Haydée Ihre Hilfe. Haben Sie damals an eine Zukunft des Stuttgarter Balletts geglaubt?

Ja, auf alle Fälle, auch wenn die Stimmung extrem traurig war. Aber ein Tänzer geht jeden Tag ins Training und beginnt neu. Er tut das, was er am besten kann: arbeiten, die nächste Vorstellung vorbereiten. Es ist ein gemeinschaftliches Ritual und nicht wie bei Schauspielern oder Sängern ein solistischer Prozess. Und ich habe damals gehofft, dass in dieser gemeinschaftlichen Arbeit die Zukunft des Stuttgarter Balletts liegt – und nicht im Konzepteschmieden. Eine Zeitung hatte eine Kampagne gemacht, damit ich das Stuttgarter Ballett übernehme. Aber ich war damals als Ballettdirektor gerade an einer Schnittstelle zwischen Frankfurt und Hamburg und unterwegs zu neuen Aufgaben.

Hatten Sie bei Ihrem Versprechen an Marcia Haydée 1973 schon die „Kameliendame“ im Sinn?

Nein, überhaupt nicht. Als erstes Projekt für Stuttgart habe ich 1976, nachdem mich Marcia Haydée, eingeladen hat, das Ballett „Der Fall Hamlet“ choreografiert. Als danach der Plan für ein abendfüllendes Stück aufkam, hatte ich zuerst an „Antonius und Kleopatra“ gedacht und suchte nach Musik dafür. Bei einem Abendessen in Stuttgart mit dem Bühnenbildner Jürgen Rose und Marcia Haydée kam mir plötzlich die Idee, dass es die „Kameliendame“ sein könnte.

Was hat Sie an Alexandre Dumas‘ Roman „La dame aux camélias“ und an der Figur der Marguerite gereizt?

Fasziniert hat mich an diesem Roman neben seiner poetischen Kraft, dass er eine sehr moderne Form hat. Alexandre Dumas schreibt die Geschichte der Marguerite Gautier nicht chronologisch aus einer Sicht, sondern in Erinnerungen, in Erzählungen und in Tagebucheintragungen aus sehr verschiedenen Perspektiven. Das hat mich damals interessiert – und das tut es heute noch, weil ich nach dramaturgisch neuen Formen für das Ballett suche und überhaupt nicht an eindimensionalen Geschichten interessiert bin.

Wie maßgeblich war Marcia Haydée an der Gestaltung der Figur der Marguerite beteiligt?

Die Szenen eines solchen Balletts entstehen natürlich im Dialog von Tänzer und Choreograf, und zu Marcia Haydée hatte ich immer eine extrem starke Verbindung, sie war eine große Inspiration. Von Beginn an geplant war, dass ich die „Kameliendame“ zwei Jahre nach der Stuttgarter Premiere in Hamburg übernehmen würde und Marcia Haydée auch hier die Hauptrolle tanzen sollte. Für diese Gelegenheit habe ich alle Pas de deux mit ihr und ihrem damaligen Hamburger Partner Kevin Haigen nochmals überarbeitet, bis sie so waren, wie wir sie heute im Wesentlichen noch kennen. Überhaupt überarbeite ich meine Ballette für jede Wiederaufnahme neu.

Wenn man im Licht der feministischen Debatte heute auf die „Kameliendame“ schaut, könnte man Marguerite dann auch als „Metoo“-Opfer bezeichnen?

Nein, das sehe ich völlig anders. Ich glaube, dass Marguerite eine kluge Frau war und ihre starke Aura wirklich bewusst genutzt hat, um den kurzen Rest Leben, der ihr vor dem nahen Tod blieb, nach ihrem Willen zu gestalten. Sie ist der starke Part und nicht die Männer, die ihr zu Füßen liegen und sie mit Reichtum überhäufen. Marguerite wurde nicht ausgenutzt, sondern sie hat die Männer benutzt. Sie hat die Entscheidungen getroffen und immer selbst über ihr Leben bestimmt.

Wie kam es zur Musikauswahl? Chopins Klaviermusik wirkt sehr fragil, wenn auf der Bühne große Gefühle verhandelt werden oder viele Tänzer agieren…

Die Musikauswahl war schwierig. Ich wollte nicht einfach Verdis Oper „La Traviata“ als reines Orchesterstück übernehmen, da es mit dem Wegfall der Stimmen nicht mehr vollkommen gewesen wäre. Kurz vor Probenbeginn war ich einigermaßen verzweifelt und habe einen jungen Pianisten um Rat gebeten, der Chopin und Berlioz ins Spiel brachte. Chopins Klaviermusik fand ich ideal, da sie das Flair der Pariser Salons des 19. Jahrhunderts hat. Sie ist leicht, aber durch die unheilbare Krankheit Chopins höre ich in ihr auch eine tiefe Melancholie und ein unterschwelliges Gefühl des Todes, das sie zum Spiegel für die sterbenskranke Kameliendame macht.

Aus heutiger Sicht markiert die „Kameliendame“ den Aufbruch des Stuttgarter Balletts in die Zeit nach John Cranko. War Ihnen dieser Wendepunkt bei Ihrer Arbeit in Stuttgart bewusst?

Nein, gar nicht. Ich habe ein Ballett nach meiner Auffassung gestaltet und hatte kein Gefühl dafür, ob ich in einer besonderen Situation in Stuttgart oder aber in Paris oder London bin. Wichtig ist, dass die Tänzer, mit denen man etwas Neues gestaltet, Spaß haben und motiviert sind – und in Stuttgart hatte ich damals ein sehr positives Gefühl bei der Arbeit.

Sie haben die „Kameliendame“ mit dem Hamburger Ballett bei Gastspielen an sehr unterschiedlichen Orten gezeigt, in Japan wie in Südamerika. Funktioniert das Stück auch in anderen kulturellen Kontexten?

Ja, das ist so. Wichtig dafür ist die Wahrheit dieser Geschichte. Ein Ballett funktioniert ohne Worte, in der Oper oder im Schauspiel wird die Lungenkrankheit der Marguerite genau bezeichnet, im Tanz spürt man einfach, dass sie krank ist. Es könnte sein, dass sie Krebs hat oder dass sie HIV-infiziert ist und an Aids erkrankt ist. Es geht also nicht mehr um eine konkrete Krankheit, sondern um ein Gefühl, das allgemein mit einem Menschen zu tun hat, der sterben wird.