John Irving Foto: W-Film

Er ist der Erzählwütige unter den Bestsellerautoren. Auch John Irvings aktueller Roman „In einer Person“ ist voller skurriler Figuren und merkwürdiger Wendungen. Der Dokumentarfilm „John Irving – Wie er die Welt sieht“ entzaubert aber das erzählerische Werk des US-Amerikaners.

Stuttgart - Als John Irving im Jahr 2010 im Theaterhaus in Stuttgart mit seinem Roman „Letzte Nacht in Twisted River“ zu Gast war, wusste er schon, wie sein nächster ausgehen würde. Mehr noch: Er las den Zuhörern sogar schon den letzten Absatz aus dem Roman „In einer Person“ vor, der zwei Jahre später erscheinen sollte: „‚Mein lieber Junge, bitte stecke mich nicht in eine Schublade. Ordne mich nirgends ein, bevor du mich überhaupt kennst!‘, hatte Miss Frost zu mir gesagt; ich habe es nie vergessen. Ist es denn ein Wunder, dass ich genau das zu dem jungen Kittredge sagte, dem arroganten Sohn meines alten Widersachers, meiner verbotenen Liebe.“

Er verriet damals, dass er beim Schreiben immer mit dem letzten Satz anfange, weil er das Ende brauche, um anfangen zu können. Denn er müsse wissen, wohin die Geschichte führe, um sich nicht in ihr zu verirren. Tatsächlich hat er in seinen lebensprallen Geschichten, die stets voller überraschender Wendungen sind und die die großen Romane des 19. Jahrhunderts wie die von Charles Dickens zum Vorbild haben, noch nie die Orientierung verloren. Und trotz aller Exkurse, Irrungen und Wirrungen gelingt es ihm auch in „In einer Person“, seinem 13. Roman, seine Geschichte nie aus den Augen zu verlieren.

Eigentlich schreibt Irving seit 1968 immer den gleichen Roman

Der Roman folgt der Lebensgeschichte des Ich-Erzählers William Abbott. Als Kind verknallt er sich folgenschwer in die Bibliothekarin Mrs. Frost und beschließt, Schriftsteller zu werden. Ausgerechnet in den prüden 1950ern merkt er, dass er sowohl Männer als auch Frauen liebt, durchlebt später den Aids-Schock und wehrt sich stets dagegen, sich vorschreiben zu lassen, was für ein Mensch er zu sein hat.

Eigentlich schreibt Irving seit 1968 immer den gleichen Roman: Es gibt stets einen vaterlosen Jungen, der Schriftsteller werden will, Reisen nach Europa, Ringer, sexuelle Verwirrungen und schlimme Entbehrungen. „In einer Person“ ist da keine Ausnahme. Die Bären, die sonst stets eine bedeutungsvolle Rolle in den Romanen einnehmen, kommen diesmal zwar etwas zu kurz. Dafür nähert sich der Irving’sche Humanismus mehr als sonst den gesellschaftspolitischen Veränderungen. Zwar gab es schon in allen früheren Romanen Protagonisten, die ihre sexuelle Identität ändern. Doch anhand seines Helden William Abbott beschäftigt er sich ausführlicher als je zuvor mit dem Thema und bezieht sich dabei explizit auf James Baldwins Coming-out-Roman „Giovannis Zimmer“.

Obwohl Irving (70) in seinem Roman „Garp und wie er die Welt sah“, der ihm 1978 zum internationalen Durchbruch verhalf, schreibt, „sich etwas auszudenken ist besser, als sich an etwas zu erinnern“, hat er viele der Motive in seinen Romanen direkt seinem eigenen Leben entnommen. Seine Lieblingshelden waren immer schon ohne Vater aufwachsende Jungen, die Schriftsteller werden wollen – und variierten damit mal mehr, mal weniger deutlich Irvings Lebenslauf. Und Irving macht nun kein Geheimnis daraus, dass „In einer Person“ stark davon beeinflusst wurde, dass einer seiner Söhne sich als schwul geoutet hat.

Minuziös erklärt Irving in der Dokumentation seine Arbeitsweise

In seinen selten weniger als 700 Seiten langen Büchern erzählt John Irving von Sehnsucht und Hoffnung, fügt seinen Figuren schmerzliche Wunden zu, lässt sie leiden, sich suchen, finden und verlieren, verrät damit viel über seine eigenen Ängste. André Schäfers Filmdokumentation „John Irving – Wie er die Welt sieht“ geht allerdings noch einen Schritt weiter. Sie überprüft nicht nur Irvings Romane auf biografische Kongruenzen, sie sucht auch die Schauplätze seiner Geschichten auf, macht reale Personen ausfindig, die mal mehr, mal weniger deutlich zu Protagonisten in Irvings Romanen wurden – Prostituierte und Tätowierer in Amsterdam, Pizzabäcker in Vancouver, das Personal eines Sanatoriums in Kilchberg in der Schweiz. Dazu erzählt Irving charmant über das Ringen und das Schreiben – zwei Tätigkeiten, die seiner Ansicht nach viel miteinander gemeinsam haben: „Schreiben ist wie Ringen. Man braucht Disziplin und Technik. Man muss auf eine Geschichte zugehen wie auf einen Gegner“, hat er einmal in einem Interview gesagt.

Minuziös erklärt Irving in der Dokumentation seine Arbeitsweise, wie er überall auf der Welt Rechercheteams beschäftigt, inszeniert sich eher als Schreibhandwerker denn als Geschichtenerfinder. Und man erfährt dabei ein bisschen mehr, als einem lieb ist. „John Irving – Wie er die Welt sieht“ ist ein Werkstattbesuch, den man sich besser erspart, wenn man nicht will, dass die Erzählwelt Irvings ihren Zauber verliert.