Foto: Hörner

Es ist nicht lange her, da haben die Gäste in Rosi's Pinte zusammengerechnet, wie viele Männer und Frauen vom Stammtisch sie verloren haben. Auf die Namen von 98 Toten seien sie gekommen, dann hätten sie aufgehört zu zählen.

Es ist nicht lange her, da haben die Gäste in Rosi's Pinte zusammengerechnet, wie viele Männer und Frauen vom Stammtisch sie verloren haben. Auf die Namen von 98 Toten seien sie gekommen, sagt Albert Sabbathi, 68, genannt der Österreicher, dann hätten sie aufgehört zu zählen. 20, 30 Treue sind übriggeblieben, aber womöglich ist auch für sie bald Schluss in Rosi's Pinte am Hölderlinplatz. Ende März geht der Wirt Stilianos Siantidis, 60, nur Stefan genannt, nach 27 Jahren in Rente. Die Gäste fürchten um ihre Heimat, "um unser soziales Umfeld", sagt der Rentner Peter-Michael-Müller, 70, bekannt als der Mann mit dem Jägerhut.

"Der liebe Gotte geht durch den Wald und macht den bösen Förster kalt", sagt Albert. Dann stoßen die Männer am runden Stammtisch an, Stefan hat Ouzo gebracht. Es ist Mittag, ein halbes Dutzend sind gekommen. Sie trinken Bier oder Württemberger. Essen war früher. Gutes Essen. Es gab Tage, da hat Stefan ein Spanferkel im Backofen zubereitet oder Pfannenfleisch mit Tomatensoße und gebackenen Kartoffelscheiben für 50 Mann serviert. Seit dem Rauchverbot ist die Kneipe an der Schwabstraße 193 im Westen offiziell Raucherkneipe. Sonst wären nicht nur die Toten weggeblieben.

Lazarus Pantelidis, 68, genannt Lazi, der eigentliche Chef des Lokals, hat sich schon vor zwei Jahren zurückgezogen. Lazi ist wie Stefan Grieche, und Rosi's Pinte, wie die Gäste sagen, "die letzte deutsche Bierkneipe" im Viertel.

Durchs Fenster sieht man die hässliche Hölderlin-Skulptur aus Kunststoff auf dem Platz vor der Stadtbahnhaltestelle. Neben der Kneipe ist die Apotheke, gegenüber die BW- Bank; in diesem Gebäude hat früher der Leibarzt aller Pinte-Gäste praktiziert. Albert aus Österreich, lange Jahre Kraftwerker bei der TWS, kann sich noch erinnern, wie man einmal abends den Doktor in die Pinte holen musste, weil Rosi, die Wirtin, den Herzkasper hatte.

1978 hatten zwei Frauen die Wirtschaft eröffnet, die Männer tranken gern auf Rosi und ihre Partnerin. 1982 übernahmen Lazi und Stefan den Laden. Rosis Schild über dem Eingang abzumontieren hätte nur Geld gekostet. Es hängt heute noch, und über dem Flaschenregal hinterm Tresen klebt ein Plakat mit roter Rosenblüte. Reiner Zufall, sagt Albert.

Rosi's Pinte ist eine der letzten traditionsreichen Eckkneipen im Westen. Die Gäste sind Nachbarn, sie kamen immer hierher, morgens, mittags, abends. Früher, sagt der Handwerker Hermann Redlich, 76, sind viele in Arbeitsmontur gekommen, und alle waren per du. Wenn es zwei Siggis gab, nannte man zur Unterscheidung einen von beiden "den schönen Siggi". Nachname Schall & Rauch.

Bei Lazi und Stefan war es immer billig. Bis heute kostet das kleine Bier einen Euro achtzig, die Halbe zweidreißig. Wenn ihre Pinte vom Immobilienbesitzer neu vermietet wird, werden die Preise steigen, fürchten die Gäste. Aber das wäre nicht das Schlimmste. "So viel Freiheit wie hier haben wir nie mehr", sagt Albert. Dann zieht er sein Fischermesser und eine Pfefferwurst aus der Tasche und schneidet für jeden am Tisch eine Scheibe ab.

Was war früher los in Rosi's Pinte. In den Achtzigern auch ohne Fußballübertragungen brechend voll. Viele alleinstehende Frauen waren da, die Verkäuferinnen vom Tengelmann drüben und die Damen von der Killesberg-Messe, wenn sie in der nahen Pension Eckel nächtigten.

Die Zeit der Zapfstellen ist vorbei. Nur noch wenige wissen, wie in Rosi's Pinte der Penner neben dem Banker am Tresen stand und der Staatsschauspieler Hansjürgen Gerth mitreißende Monologe hielt, bis man an einem Maitag 1999 vergeblich auf ihn wartete. Er war, mit 56, gestorben.

Heute, am Donnerstag, gibt es noch ein Sondergastspiel in Rosi's Pinte: Die Stuttgarter Autorin Stefanie Wider-Groth liest um 20 Uhr aus ihrem neuen Krimi; er heißt "Tatort Hölderlinplatz".