Die britische Fernsehlegende Jimmy Savile soll sich über Jahrzehnte an Kindern vergriffen haben. Foto: dpa

Er war der Held einer ganzen Generation: Nun werden die dunklen Seiten des „Top of the Pops“-Moderators Jimmy Savile bekannt. Fast täglich melden sich neue Missbrauchsopfer.

London - Einen derart gruseligen Sex-Skandal hätte der BBC kein Drehbuchautor der Welt servieren können: Hitparaden-Ikone Jimmy Savile, der durch die Sendung „Top of the Pops“ eine lebende Legende wurde, soll über 60 Jahre lang Minderjährige am Rande seiner Shows missbraucht haben. Hinweise gab es viele, Konsequenzen dagegen keine: Der Quotenstar war unantastbar. Jetzt muss sich der Sender fragen lassen, warum der Moderator in all den Jahren nie gebremst wurde.

36 Jahre ist es her, dass Kevin Cook sein großes Idol treffen durfte: Der Neunjährige war damals mit seiner Pfadfindergruppe zur legendären Fernsehshow „Jim’ll fix it“ eingeladen, in der Savile Kinderträume wahr werden ließ. „Wir haben uns so gefreut, dabei zu sein“, erinnert sich Cook, „für uns war er ein Gott.“ Was nach dem Auftritt passierte, darüber hat der heute 45-Jährige erst diese Woche in der Presse gesprochen: „Savile dirigierte mich in eine schmutzige Umkleide hinter der Bühne, wo ich mir meine Teilnahme-Plakette ,verdienen’ sollte. Dort missbrauchte er mich.“

Cook ist nicht allein mit seinem Trauma, die düstere Seite eines Mannes erlebt zu haben, der für Generationen von Hitparaden-Fans noch immer eine Institution ist. So groß und rein war Saviles Ruhm, dass erst nach seinem Tod im Oktober 2011 einzelne Opfer endlich den Mut fanden, ihr Leid öffentlich zu machen. Damit war der Bann gebrochen: Dutzende folgten ihrem Beispiel, über 60 Fälle aus sechs Dekaden sind der Polizei inzwischen bekannt. Fast täglich müssen die Ermittler die Zahl nach oben korrigieren. Sie sprechen mittlerweile von einem „raubtierhaften Sexualstraftäter“.

Betroffene wurden mit Stubenarrest und Essensentzug bestraft

Weil Savile eine exzentrische Art pflegte, laut, schrill und komisch daher kam, hakte offenbar selbst sein direktes Umfeld die unangemessenen Tätscheleien als einen Spleen ab. Dabei kassierte Savile schon 1958 die erste Anzeige. Beweisen ließ sich damals allerdings nichts. Andere Betroffene, wie eine 14-Jährige, die sich 1977 einer Lehrerin anvertraute, wurden mit Stubenarrest und Essensentzug bestraft. Mädchen aus dem Publikum, junge Bühnentänzer oder Crew-Helfer – in dem lockeren Showambiente war, den Vorwürfen zufolge, kaum ein Teenager vor dem Entertainer sicher.

Auch in Krankenhäusern und Heimen für Geistigbehinderte soll das Personal bei Besuchen des spendablen BBC-Stars beide Augen zugedrückt haben. „Die Kinder wurden angewiesen, sich schlafend zu stellen, wenn Savile seine Runden drehte“, berichten Zeugen in britischen Medien. Oft schlief er in den Einrichtungen; ein Krankenhaus schenkte ihm zum sogar einen vergoldeten Schlüssel zum Patientenbereich. Für ihre finanzielle Unterstützung erhielt Savile 1990 den Ritterorden. Heute ermittelt die Polizei, ob der ach so wohltätige Prominente hier, bei den Schutzlosesten der Gesellschaft, vielleicht die schlimmsten Taten begangen haben könnte.

Saviles Hang zur Pädophilie soll in den 42 Show-Jahren von „Top of the Pops“ ein offenes Geheimnis gewesen sein

Mit ihm rückt auch die renommierte BBC in den Fokus der Ermittler. Zwei Untersuchungen hat der Sender jetzt zwar unter dem Druck der Enthüllungen initiiert; vergangenes Jahr jedoch, als der Fall es noch nicht auf die Titelseiten geschafft hatte, verliefen hausinterne Nachforschungen schnell im Sande. Ermittlungen der Polizei – zuletzt im Jahr 2007 – wurden aus Mangel an beweisen eingestellt. Dabei soll Saviles Hang zur Pädophilie in den 42 Show-Jahren von „Top of the Pops“ ein offenes Geheimnis gewesen sein. „Es lassen sich bestimmt Lektionen lernen, wie mit übergriffigen Angestellten in Führungspositionen oder Stars umzugehen ist“, räumte Michael Lyons, Geschäftsführer von BBC Trust, inzwischen ein. Intendant George Entwistle muss dem Kulturausschuss des Parlaments hierzu kommende Woche Rede und Antwort stehen. „Ein solcher Fall darf sich jedenfalls nie, nie wiederholen“, betonte der britische Justizminister Chris Grayling.

Die Familie hat Saviles Grabstein – ein großspuriges Monument an die Lebensleistung des legendären Entertainers – unterdessen abräumen und verschrotten lassen. Eine Wachsfigur, die ihn in typisch grinsender Sieger-Pose zeigt, will auch Madame Tussaud’s nicht mehr ausstellen. Zumindest für Kevin Cooke, der zu den jüngsten Opfern des BBC-Moderators zählte, bringt Großbritanniens Aufarbeitung von Pädophilie im Showgeschäft endlich Seelenfrieden. Er hat 36 Jahre lang geschwiegen, weil Savile es so wollte: „Er sagte damals: „Dir glaubt sowieso keiner. Ich bin König Jimmy.’“ Jetzt falle ihm eine Last vom Herzen.