Die unglaubliche Zahl von fast 1000 Toten macht die Menschen des Landes fassungslos und wütend. Das Versagen der Armee und der Regierung wird noch Folgen haben. Zunächst aber rückt man zusammen – und trauert um die Opfer.
Hagai Tsoref kling bedrückt. Die Stimme ist gedämpft, man glaubt, durch das Telefon einen Mann mit gesenktem Kopf und gebrochenem Glauben zu sehen. Wie anders war das noch im Frühjahr. Da war der israelische Historiker kämpferisch, erklärte mit Verve und Engagement, warum er regelmäßig auf die Straße geht und gegen die Regierung demonstriert, die seiner Ansicht nach die Demokratie in Israel vernichten will. Die Regierung habe versagt, das sagt Hagai Tsoref auch jetzt, drei Tage nach dem Angriff der Hamas-Terroristen auf sein Land, das immer noch dabei ist, die Toten und die Geiseln zu zählen. Aber viel schlimmer: „Auch die Armee hat versagt, und dass dies passieren kann, das konnten wir uns einfach nicht vorstellen“, sagt Tsoref. Die Armee, der Stolz des Landes.
„Hören Sie den Lärm im Hintergrund?“, fragt Hagai Tsoref und bittet um Entschuldigung. Das seien Kampfjets, die von der nahe gelegenen Militärbasis aufsteigen, um Gaza zu bombardieren. Es ist viel Hintergrundlärm während des Gesprächs zu vernehmen.
„Die Armee hat uns nicht geschützt“
Seinen Schreibtisch in Jerusalem hat Tsoref inzwischen verlassen und ist zu den Enkeln in den Norden des Landes gefahren. Anderthalb Stunden von der Metropole entfernt. Die Straßen seien schon etwas leerer gewesen als gewöhnlich, aber keinesfalls wie ausgestorben, sagt Tsoref. „Wir sind Israelis und einiges gewohnt.“ Dann schickt er noch ein „leider“ hinterher.
Immer wieder sind im Hintergrund die aufsteigenden Jets zu hören, immer wieder schüttelt Hagai Tsoref hörbar den Kopf. „1000 Menschen, 1000 Tote!“ Diese Zahl – offiziell wird von rund 900 Toten gesprochen – lässt ihn nicht los, so wie kaum jemanden in Israel. „Frauen, Kinder, Babys, und die Armee hat es nicht geschafft, uns zu schützen“. Bekannte von Hagai Tsoref, die in Steinwurfweite zum Gazastreifen leben, haben im Schutzraum überlebt. Viele andere nicht. „1000 Tote“, da ist sie wieder, die Zahl, „ein unglaublicher Horror, jenseits all unserer Vorstellungskraft“.
Noch haben die Menschen kaum Zeit, das Trauma des Geschehenen zu verarbeiten. Immer wieder schrillen im Süden und im Zentrum Israels die Raketen, immer wieder fliehen Menschen aufgeschreckt in Bunker und Schutzräume, um sich vor den feindlichen Geschossen der Hamas in Sicherheit zu bringen. Derweil bombardiert Israels Luftwaffe in Gaza weiter Ziele der Terrorgruppe. Viele Analysten gehen davon aus, dass das nur der Anfang ist: Seit Tagen mehren sich die Anzeichen für eine nahende Bodenoffensive.
Dafür sprechen unter anderem die massiven Vorbereitungen: Die Armee hat innerhalb kürzester Zeit 300 000 Reservisten eingezogen und die Ortschaften nahe dem Gazastreifen evakuiert. „Wir bauen die Infrastruktur für zukünftige Operationen auf“, sagt ein Armeesprecher.
Über die Ziele dieses Krieges hält Israels Regierung sich weiterhin bedeckt. Benjamin Netanjahu hat lediglich gedroht, die „militärischen Kapazitäten“ der Hamas zu zerstören – eine Formulierung, die offen für Interpretationen ist. Viele Sicherheitsexperten fordern derweil, der Hamas die Kontrolle des Gazastreifens zu entreißen. „Das Überleben im Nahen Osten erfordert die fortlaufende Demonstration von Stärke und Entschlossenheit“, schreibt Efraim Inbar, Präsident des konservativen Jerusalem-Instituts für Strategie und Sicherheit, in einer Mitteilung. Eine groß angelegte Bodenoperation sei nötig, um die Macht der Hamas zu beenden.
Auch der Militärexperte Kobi Michael vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv plädiert für die komplette Entmachtung der Islamisten. „Israel muss Hamas militärisch zerstören“, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. „Dafür müssen wir den Gazastreifen auf eine Weise unter unsere Kontrolle bringen, die es uns möglich macht, das Gebiet von sämtlicher militärischer Infrastruktur zu befreien.“ Eine solche Militäroperation könnte Wochen, wenn nicht Monate dauern. „In der ersten Phase geht es darum, die Hamas zu besiegen. Dann müssen wir sie daran hindern, ihre Kapazitäten wieder aufzubauen. Und anschließend müssen wir darüber nachdenken, wer Gaza kontrollieren soll.“ Manche Analysten plädieren dafür, der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Teile des Westjordanlands regiert, die Verantwortung für Gaza zu übertragen. Kobi Michael dagegen kann sich sogar vorstellen, einer entwaffneten Hamas die Kontrolle des Gebiets zu überlassen. Klar ist: Eine solch massive Militäroperation würde indes die Opferzahlen auf beiden Seiten weiter in die Höhe treiben – und wohl das Leben vieler israelischer Geiseln kosten.
Zugleich wachsen die Sorgen vor einem Konflikt mit der Hisbollah im Libanon, die wie die Hamas von westlichen Staaten als Terrororganisation gelistet und vom Iran unterstützt wird. Ein solcher Zwei-Fronten-Krieg würde Israels Armee und ihre Raketenabfangsysteme weit stärker unter Druck setzen als der fortlaufende Beschuss der Hamas. Über rund 150 000 Raketen soll die Hisbollah verfügen, viele davon zudem treffsicherer als die Geschosse der Hamas.
Auch die US-Regierung sorgt sich laut Berichten der „Washington Post“ um Israels nördliche Front. Die Entscheidung der US-Regierung, den Flugzeugträger USS Gerald R. Ford ins östliche Mittelmeer zu verlegen, soll demnach zur Abschreckung der Hisbollah dienen. Die libanesische Zeitung „L’Orient Today“ berichtete mit Verweis auf Hisbollah-nahe Quellen, die Organisation habe ihre Kämpfer in Alarmbereitschaft versetzt; die Entscheidung, eine zweite Front gegen Israel zu eröffnen, sei jedoch noch nicht gefallen.
Sollte Israel tatsächlich Bodentruppen nach Gaza schicken, „werden es sich Hisbollah und Iran nicht leisten können, von der Seitenlinie aus zuzuschauen“, schreibt Firas Maksad, Libanonexperte vom Middle East Institute, einer Denkfabrik in Washington. Doch die Entscheidung über eine Intervention der Hisbollah werde nicht im Libanon, sondern in Teheran getroffen.
Wäre das alles zu verhindern gewesen? Als Hagai Tsoref im Frühjahr über die Regierung geschimpft hat, da klang er wütend. Jetzt klingt er frustriert. Warnungen habe es gegeben aus Ägypten, dass „etwas Großes“ passieren wird. Nichts sei geschehen. Die Soldaten seien vom Gazastreifen nach und nach abgezogen worden, um die Siedler im Westjordanland zu schützen, den Warnungen zum Trotz. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für einen Rücktritt des Premierministers“, sagt Hagai Tsoref – und räumt ein, dass das im Augenblick viele anders sehen, auch seine Freunde aus der Protestbewegung. Erst den Krieg beenden, erst die Gräuel verarbeiten, dann der Rücktritt, so deren Ansicht.
Vor 50 Jahren, als die ägyptischen und syrischen Soldaten im Jom-Kippur-Krieg Israel überraschten, saß der heute 70-Jährige als junger Soldat in einem Panzer. Es gebe Parallelen, sagt der Historiker, aber heute sei es schlimmer als damals. Heute habe es Warnungen gegeben, trotzdem dieses Grauen, trotzdem 1000 Tote. Im Hintergrund steigen weitere Kampfjets auf in den Himmel.