Die deutschen Turner packen zu – Medaillen bleiben aber ein Traum Foto: dpa

Die bisher magere Medaillenausbeute in Rio ist kein Zufall. Der deutsche Spitzensport verliert den Anschluss. Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turner-Bunds (DTB), schlägt Alarm und fordert grundlegende Reformen.

Stuttgart - Interview mit Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turner-Bunds (DTB)

Herr Brechtken, wie bewerten Sie die bisherigen Leistungen Ihrer Turner in Rio?
Das Frauenteam hat sich mit dem sechsten Mannschaftsplatz und vier Einzelfinal-Teilnahmen in die Weltelite geturnt. Guter Nachwuchs drängt nach. Eine weitere Leistungssteigerung ist möglich. Die Männer mussten die schwere Verletzung von Andreas Toba wegstecken. Das Ergebnis der Mannschaft ist vor diesem Hintergrund sehr gut. Fabian geht als Vorkampfbester ins Reckfinale. Leider ist Marcel bei Punktgleichheit nicht ins Barrenfinale gekommen. Die Leistung von Andreas, trotz schwerer Knieverletzung, unter Schmerzen, ans Pauschenpferd zu gehen und der Mannschaft so den Einzug ins Finale zu sichern, ist mehr als bewundernswert.
Zurzeit hagelt es wieder Kritik an den Leistungen diverser Sportarten. Wer steuerte eigentlich den deutschen Spitzensport?
Da sprechen Sie ein wichtiges Thema an. Wir müssen uns einmal wieder darüber verständigen, welche Ebene eigentlich welche Funktion haben soll.
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) fühlt sich zuständig, die eigentliche Arbeit findet aber in den Fachverbänden statt. . .
. . . weil der Fachverband mit seinen Experten über das nötige Wissen verfügt.
Das ist der Status quo, warum muss das System dennoch reformiert werden?
Weil es weiter professionalisiert werden muss, wenn wir international nicht den Anschluss verlieren wollen.
Was heißt das konkret?
Bei aller Verantwortung eines Verbands im ehrenamtlichen Bereich, letzten Endes muss der Spitzensport von einem Sportdirektor, von Cheftrainern, von hauptamtlichen Spezialisten geführt werden. Sie müssen in der Lage sein, internationale Erkenntnisse einzubringen, Stützpunkte und Heimtrainer einzubinden, das Team zu führen und zu motivieren.
Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Das sagen Sie. Als ich als Präsident zum Deutschen Turner-Bund kam (Anm. d. Red.: im Jahr 2000), lag die Sportart regelrecht am Boden. Und es gab im ehrenamtlichen Bereich schätzungsweise 200 selbst ernannte Bundestrainer, von denen jeder ganz genau wusste, was zu tun ist. Und in den Gremien wurde alles so lange durchgekaut, bis es jedem schmeckte, aber nichts mehr damit anzufangen war.
Die Wende begann mit Fabian Hambüchen 2004 bei den Olympischen Spielen in Athen.
Und sie ging weiter bei der Turn-WM 2007 in Stuttgart. Heute ist das Turnen auf einem hohen Niveau wieder viel breiter aufgestellt, gerade auch bei unseren Frauen.
Was hat die Veränderungen bewirkt?
Wir haben die Satzung komplett geändert. Seither gibt es eine Säule für die Kaderathleten, die ausschließlich von hauptamtlichen Kräften gesteuert werden. Beim DTB entscheidet ein Lenkungsstab aus Experten darüber, wer wie trainiert wird, welche Trainingsprogramme wir einsetzen und wer wohin nominiert wird.
Manche Sportarten agieren noch ziemlich antiquiert.
Sagen wir es so: Es gibt da in einigen Bereichen noch Luft nach oben. Die Professionalisierung muss jedenfalls das wichtigste Kriterium bei der Vergabe von staatlichen Zuschüssen sein.
Und dann purzeln wieder die Medaillen?
Natürlich nicht. Der Leistungssport ist ein komplexes System, das nicht nur aus A- und B-Kaderathleten besteht. Er fängt ganz unten an – beim Nachwuchs.
Das ist nun wirklich keine Neuigkeit.
Stimmt, aber wichtig ist, dass die Bundesländer in der Sportförderung begreifen, dass sie genau an dieser Stelle am intensivsten fördern müssen. Das heißt häufig den begabten Nachwuchs an einen Stützpunkt in ein anderes Bundesland abzugeben und trotzdem die Nachwuchsstruktur beizubehalten. Oft geht es in erster Linie nur darum, dass die Länder noch ein paar Euro auf die Förderung der Topathleten drauf legen, damit der Ministerpräsident mit einem Olympiasieger glänzen kann. Baden-Württemberg ist hier eine positive Ausnahme.
Was ist das Problem mit dem Nachwuchs?
Wir bekommen immer weniger junge Menschen in das System hinein. Uns gehen zu viele Talente verloren.
Null Bock auf Spitzensport?
Die Bewegungsbegabungen sind da, wir müssen aber systematischer nach Talenten Ausschau halten und sie für den Spitzensport begeistern. Dafür lohnt es sich, Geld in die Hand zu nehmen. Bund und Länder sollten sich entsprechend abstimmen. Bisher gibt es hier mal ein bisschen, dort mal ein bisschen. Das ist unübersichtlich, man muss das entzerren.
Manche träumen von Verhältnissen wie in Frankreich, Australien oder England.
Das sind aber nur Illusionen. In diesen Ländern gibt es weder die gewachsene Vereinsstruktur wie in Deutschland noch den Föderalismus. Die habe ein paar Leistungszentren, die Universitäten und die Schulen. Zentralismus erleichtert natürlich die Sportförderung, das ist in Deutschland aber so nicht durchzusetzen. Wir müssen die Vereine, die Verbände und die Länder mit ins Boot nehmen.
Womit die wichtigste Frage nicht geklärt wäre: Wie kommt Deutschland zu mehr Medaillen?
Das Wichtigste ist die Förderung des Nachwuchsleistungssports, das ist die Basis. Die Olympia-Medaillen sind ein schöner Nebeneffekt.
An diesem Effekt werden Sie aber in der Öffentlichkeit gemessen.
Das mag sein. Entscheidend ist für mich aber wie in der Malerei oder in der Musik, dass ich zu allererst Begabungen optimal fördere. Und Bewegungs-Talent ist auch eine Begabung. Daraus ergibt sich die gesellschaftliche Akzeptanz. Der zweite Schritt ist dann sportlicher Erfolg, der dritte Schritt die Medaille bei Olympischen Spielen mit dem Sportler als Botschafter unseres Landes.
Welche Schritte schlagen Sie also vor für die Reform des deutschen Spitzensports?
Zunächst gibt es eine Grundförderung durch den Bund für alle Sportfachverbände. Die Bedingung hierfür ist aber eine Professionalisierung auf allen Ebenen. Für eine weitere finanzielle Förderung muss der Verband Konzepte vorlegen, die nachvollziehbar machen, wie er international zu Erfolgen kommen will. Die dritte Stufe wäre dann die Einzel-Förderung von Athleten, die ganz klar die Aussicht auf internationale Erfolge haben.
Und wer liefert die Expertise für diese Stufen?
Ich halte nichts davon, Algorithmen zu entwickeln, die den Erfolg messbar machen sollen. Ich plädiere ganz entschieden für ein Modell, das auf Vertrauen und Dialog aufbaut. Geprüft werden sämtliche Überlegungen dann durch ein Dreigestirn aus DOSB, Sportfachverbänden und Wissenschaft. Dazu brauche ich eine ordentliche medizinische Betreuung. Als Dienstleister für die Sportler fungieren weiter die Olympiastützpunkte, die sich auch um Unterstützung in schulischen und beruflichen Fragen kümmern. Sie halten die Dienstleistungen für den Athleten vor.
Klingt einleuchtend, und wer zahlt?
Sicherlich brauchen wir in Zukunft die eine oder andere Million zusätzlich, um effektiv arbeiten zu können. Unsere Trainer sind zu schlecht bezahlt. In vielen Sportarten wandern sie ins Ausland ab oder wechseln in andere Bereiche.