Vor mehr als einem Jahr entdeckt ein Kanufahrer eine Kinderleiche in der Donau. Wer der Junge war und was hinter der Tat steckt, ist bis heute nicht geklärt. Nun hofft die Polizeibehörde Interpol auf Hinweise aus dem Ausland.
Die internationale Polizeibehörde Interpol weitet die Ermittlungen nach dem Fund eines toten Jungen in der Donau aus. Auf Anfrage der deutschen Behörden sei ein Aufruf an die 195 Interpol-Mitgliedsstaaten verschickt worden, um Informationen zur Identifizierung des toten Jungen zu bekommen. Dabei wurde auch eine Rekonstruktion des Gesichts des Jungen versendet, die im Herbst 2022 erstellt worden war.
Wie ist der Stand der Ermittlungen?
Trotz der Suche durch das Bundeskriminalamt mit Anzeigen auf Infobildschirmen und einem Beitrag in der ZDF-Fernsehsendung „Aktenzeichen XY . . . ungelöst“ hatten die Ermittler auch mehr als ein Jahr nach dem Fund der Leiche keinen Durchbruch vermelden können.
Ein Kanufahrer hatte den Leichnam am 19. Mai 2022 zwischen Vohburg und Großmehring östlich von Ingolstadt in Bayern entdeckt und an Land gebracht.
Der Junge, dessen genaue Todesursache weiter unklar blieb, war in Plastik eingewickelt und mit einem Pflasterstein im Fluss versenkt worden. Es wird vermutet, dass der Junge umgebracht wurde.
Polizeilicher Steckbrief des toten Jungen
Nach Angaben von Interpol gehen die Ermittler davon aus, dass der Junge zum Zeitpunkt seines Todes zwischen fünf und sechs Jahre alt. Bei einer Körpergröße von 110 Zentimetern wog das Kind laut Polizei lediglich 15 Kilogramm.
Anzeichen von Verwahrlosung oder chronischer Unterernährung haben die Beamten dennoch nicht gefunden. Er hatte demnach braune Haare und die Blutgruppe 0. Nach bisherigen Ermittlungen habe er wahrscheinlich Zeit außerhalb Deutschlands verbracht.
Wurde das Kind Opfer von Menschenhändlern?
Man werde alle Kapazitäten der Behörde einsetzen, um den Jungen zu identifizieren, „egal ob er ein Opfer von Menschenhandel, einer Entführung oder einer Gewalttat war“, sagt Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock. „Irgendwo weiß irgendjemand irgendetwas über diesen Jungen.“
Wer glaube, dass der Junge ein Mitglied seiner Familie gewesen sein könne, könne über nationale Polizeibehörden und Interpol mit einem neuen Tool einen DNA-Verwandtschaftsabgleich vornehmen lassen.
Fahnder vermuten, dass der Junge einige Zeit außerhalb Deutschlands verbracht haben könnte. Ein weltweiter Aufruf in den 195 Interpol-Mitgliedstaaten soll nun die Frage klären, „ob er Opfer von Menschenhandel, Entführung oder Gewalt“ war, wie Stock erklärt.
Was kann der DNA-Tool der Polizei beitragen?
Bürger, die sich „an ein vermisstes Kind erinnern können, dessen Erscheinung oder dessen Verschwinden auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Fall hinweisen“, sind aufgerufen, sich mit der deutschen Polizei in Verbindung zu setzen.
Die Ermittler setzen außerdem Hoffnungen in das DNA-Tool I-Familia. Es soll unbekannte Leichen wie die des kleinen Jungen mittels internationalem DNA-Verwandschaftsabgleich identifizieren.
„Das ist für uns kein Cold Case“
„Wir arbeiten derzeit weltweit Vermisstenfälle ab und haben zugleich an dem Abschnitt des Donauradwegs, an dem der Junge vermutlich ins Wasser gelangt ist, Fahndungstafeln aufgestellt“, sagt Andreas Aichele, Pressesprecher des Ingolstädter Polizeipräsidiums. Mit Hochdruck arbeite die Polizei noch immer an dem Fall. „Das ist für uns kein Cold Case – ganz im Gegenteil.“
Die Polizei geht davon aus, dass der Leichnam zwischen den Staustufen Ingolstadt und Vohburg ins Wasser geworfen wurde und dort mehrere Wochen lag. Die Kripo Ingolstadt setzte Spürhunde, Sonargeräte und Taucher ein und fahndete intensiv in der Region, um den Fall aufzuklären. Mehr als 100 Vermisstenfälle prüften die Beamten.
Woher stammte der tote Junge?
Dass es sich bei dem Buben, dessen Gesicht im Herbst von der Gerichtsmedizin rekonstruiert worden ist, um ein Kind handelt, dass in Bayern in klassischen Familienverhältnissen gelebt hat, schließt die Polizei inzwischen „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ aus.
„Wir wissen aber nicht, ob das Kind vorübergehend hier gewohnt hat, ohne dass es offiziell gemeldet wurde“, betont Aichele.
Wie viele Menschen werden in Deutschland vermisst?
Immer wieder werden Kinderentführt, eingesperrt und missbraucht. Nur die aufsehenerregendsten Fälle werden publik. In Deutschland werden vermisste Kinder und Jugendliche in der Vermisstenstatistik des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Kriminalämter der Länder (LKA) erfasst.
Mehr als 100 000 Kinder und Jugendliche werden nach Angaben der Initiative Vermisste Kinder in Hamburg jedes Jahr in Deutschland als vermisst gemeldet. Die Hälfte der Fälle klärt sich laut BKA innerhalb der ersten Woche auf, nach einem Monat sind 80 Prozent gelöst. Nur etwa drei Prozent der Vermissten sind nach einem Jahr noch verschwunden.
Das BKA hat in seiner Vermisstendatei („Vermisste/unbekannte Tote“ – Vermi/Utot) insgesamt rund 12 000 aktuelle Vermisstenfälle gespeichert – darunter circa 9300 Fälle von Betroffenen in Deutschland (Stand: 1. Januar 2023). „In dieser Zahl sind sowohl Fälle enthalten, die sich innerhalb weniger Tage aufklären, als auch Vermisste, die bis zu 30 Jahren verschwunden sind“, heißt es beim BKA.
Wie hoch ist die Zahl der vermissten Kinder und Jugendlichen?
In dieser Datei sind derzeit rund 1700 ungeklärte Fälle zu vermissten Kindern bis zum 13. Lebensjahr (Stand: 5. April 2019) erfasst. „Dramatische Fälle, die unaufgeklärt bleiben, bewegen sich im Jahresmittel im niedrigen ein- bis zweistelligen Bereich“, erklärt ein Mitarbeiter der Initiative Vermisste Kinder. Die allermeisten Jugendlichen tauchten binnen kürzester Zeit wieder auf. Doch in einer Vielzahl von Fällen tappe die Polizei im Dunkeln.
Nach BKA-Angaben waren im Jahr 2022 waren insgesamt 16 600 Kinder vermisst. Durchschnittlich wurden demnach in den vergangenen fünf Jahren rund 15 800 Kinder im Jahresverlauf als vermisst registriert. Die Aufklärungsquote liegt jährlich im Schnitt bei nahezu 97 Prozent.
Täglich werden in der Fahndungsdatei des BKA in Wiesbaden 200 bis 300 Fahndungen neu erfasst oder gelöscht. Bei Nichtaufklärung bleibt die Fahndung 30 Jahre bestehen. Die Polizei ist europaweit vernetzt – Europol, BKA und LKAs gehen jedem Hinweis nach.
Wie arbeiten die Ermittler?
In der BKA-Vermisstenstelle wird jedes Schicksal detailliert erfasst. Wenn sich die Spuren im Nichts verlieren, müssen die Ermittler davon ausgehen, dass der oder die Minderjährige verunglückt oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.
Manchmal findet man die Leiche. Dann können die Angehörigen zumindest ihr Familienmitglied beerdigen und Abschied nehmen. Einige Vermisste tauchen aber nie wieder auf, weil sie in einem Baggersee ertrunken oder in einem Steinbruch verschüttet worden sind. Der Familie bleibt dann nichts außer der Erinnerung.
Wie läuft eine Vermissten-Fahndung ab?
In der Polizeidienstvorschrift (PDV) 389 „Vermisste, unbekannte Tote, unbekannte hilflose Personen“ ist genau geregelt, wie bei Vermisstenmeldungen vorzugehen ist. Minderjährige dürfen demnach ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen. Bei ihnen wird grundsätzlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen. Wenn erforderlich, läuft eine Großfahndung der Polizeibehörden an.
Reicht das Personal einer Dienststelle nicht aus, wird die Hilfe der Bereitschafts- und Bundespolizei angefordert. Hunderte Beamte durchkämmen dann die Gegend, in der ein Minderjähriger verloren gegangen ist oder vermutet wird.
Mit modernsten kriminologischen Methoden wird heute nach Vermissten gefahndet. Enorm belastend für viele Familien ist das sogenannte Age processing, ein aus den USA stammendes Fahndungsverfahren: Fotos von dauerhaft vermissten Kindern werden dabei am Computer an das tatsächliche Alter der Verschwundenen angepasst und so ein aktualisiertes Fahndungsfoto erstellt.
Die Eltern sehen ihr vermisstes Kind auf dem Bildschirm älter werden. Sollte das verschwundene Kind nach Jahren tatsächlich noch leben, hätte sich sein Aussehen frappierend verändert.