Echte Kerle in der Sinnkrise: Das traditionelle Rollenbild des Mannes als Beschützer und Ernährer der Familie bröckelt. Die Freiheit, neue Rollen zu wählen, sowie die weibliche Konkurrenz überfordern viele Männer. Ein Zwischenruf zum Stand der männlichen Emanzipation.
Er schlummert tief in jedem von uns Männern – der „wilde Mann“. Wer sein zivilisationsgeplagtes Ego hinter sich lassen und den ungezähmten, hemmungslosen Kern in sich befreien will, kann in die archaische Welt der Schwitzhütten, des Holzhackens und der Männercamps mit Urschrei-Therapie und Achtsamkeit-Training eintauchen.
Dort, wo man(n) noch richtig Mann ist. Einfach online ein Erlebnis-Coaching oder Abenteuer-Seminar buchen. Und schon kann man(n) den echten Kerl aus seinem Käfig lassen.
Am 19. November ist „International Men’s Day“
Am 19. November ist es wieder so weit: Dann feiert man(n) weltweit „International Men’s Day 2023“ – den „Internationalen Männertag 2023“. Doch was wird an diesem Datum eigentlich gefeiert?
Natürlich der „positive Wert, den Männer für die Welt, ihre Familien und Gemeinschaften haben“, wie es ganz offiziell auf dem „Männergesundheitsportal“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) heißt. „Es sollen positive Rollenmodelle hervorgehoben werden und das Bewusstsein für das Wohlergehen von Männern geschärft werden.“
Starkes Geschlecht in der Sinnkrise
Das (vermeintlich) starke Geschlecht hat derartige Revitalisierungskuren offenkundig bitter nötig, denn es steckt in einer tiefen Sinnkrise. Frauenbewegung und Emanzipation haben seine traditionelle Rolle als Brötchenverdiener und „Pater familias“ ins Wanken gebracht.
„Männer sind quasi die sozialpsychologische Problemzone des 21. Jahrhunderts“, stellt der Trendforscher Eike Wenzel, Gründer des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ) in Heidelberg, fest.
Ende der 1960er-Jahre entstand in den USA die Männerbewegung. Mitte der 1970er-Jahre schwappte sie auch nach Deutschland in die studentische Sponti-Szene über. Damals redete man viel über Sexismus und Geschlechterrollen. Seitdem sind vielfältige Formen männlicher Selbstverwirklichung entstanden: Männerzentren, Männerberatungsstellen, Männertherapien, Männerforen, Väter-Gruppen und Männer-in-Kitas-Initiativen etc. etc..
Unterwegs auf „Männerpfaden“
Zur Stärkung des Maskulinen im Mann werden mitunter recht bizarre Wege beschritten: Schwitzhütten-Einkehr, schamanische Männerpfade oder Herzenskrieger-Training. Dort und anderswo sollen Männer lernen, ihre Energie und Urkraft „pur zu genießen“, wie es auf einer männerbewegten Webseite heißt.
Die Kirchen bieten Expeditionen in die Ur-Tiefen männlicher Psyche genauso an wie private Vereine und kommerzielle Coaches. Bei Trommel-, Theater- und Tanzworkshops können orientierungslose Großstadtnomaden ihre emotionalen Rüstungen sprengen und ihr verschüttetes Mannsein freilegen.
„Männerpfade“ und Initiationsriten, wie die des US-Bestsellerautors und katholischen Priesters Richard Rohr („Der wilde Mann. Geistliche Reden zur Männerbefreiung“, 1986), der zur spirituellen Männerbefreiung aufruft, sollen verhindern, dass männliche Energien von den Sorgen des Alltags als Partner, Vater und Ernährer aufgesogen werden. Statt in Konsum und Konflikte sollen sie in Kraft und Kreativität fließen.
Klassische Rollenverteilung ist ins Wanken geraten
„Was Männer sollen und dürfen, ist zunehmend weniger eindeutig zu sagen“, erklärt der Dresdner Psychologe Holger Brandes. Im Zuge der Frauenbewegung seien Männer weicher und emotionaler geworden, während die Ansprüche der Frauen gewachsen seien.Die Berliner Soziologin Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), sieht die Ursache für die männliche Identitätskrise dagegen vor allem in der weiblichen Emanzipation. „Deutsche Männer geraten unter Druck. Frauen sind auf dem Weg, sie in vielen Bereichen einzuholen.“ Frauen eroberten typische Männerberufe, besetzten Führungspositionen in Dax-Unternehmen, bekleideten wichtige Ämter in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft.
Die klassische Rollenverteilung ist unstrittig ins Wanken geraten. Jedoch konstatiert der Soziologe Martin Theunert, einer der Vordenker der progressiven Schweizer Männerbewegung, keinen echten Wandel, sondern nur eine Erweiterung der Männlichkeitsrolle. Männer müssten nun auch einfühlsame Partner und fürsorgliche Väter sein. „Gleichzeitig werden sie auf der Gegenseite aber nichts los“,so Theunert. „Sie sichern das Einkommen, sind die breite Schulter in der Brandung und sollen Karriere machen. Karriere und gleichberechtigte Kinderbetreuung sind aber unvereinbar.“
Was ist Männlichkeit?
Die Definition, was Virilität (lateinisch „virilis“, männlich) ist, hat sich historisch und kulturell stark gewandelt. Gemeint ist zuvorderst die männlich-erotische Ausstrahlung und Zeugungsfähigkeit.Wer mannhaft ist und seinen Mann steht, galt/gilt traditionell als tapfer und potent. Als Sinnbild von Männlichkeit assoziiert(e) man bestimmte physische Attribute wie etwa Körpergröße, Muskulatur, tiefe Stimme, breite Schultern, markante Gesichtszüge und Brustbehaarung.
Auch Charaktereigenschaften wie Mut, Risikobereitschaft, Abenteuerlust und Aggression zeichnen/zeichneten Männer aus, wobei diese sich soziokulturell oft stark unterscheiden.
Wie hält es der moderne Mann mit seinem Mannsein?
Der harte und starke Mann, der sagt, wo's langgeht – das war einmal. Der moderne Mann ist einfühlsam und sensibel. Er vermag Beruf und Familie auszubalancieren. Er teilt sich mit seiner Partnerin Haushalt und Erziehung, ist offen für weibliche Selbstverwirklichung, verständnisvoll und gesundheitsbewusst. Auch vergräbt er seine Gefühle nicht in den Hinterhöfen seiner Seele, sondern spricht offen mit ihr und anderen darüber.Das Problem ist nur: Die weibliche Erwartungshaltung ist heute sehr viel höher als sie früher einmal war. Moderne Frauen wollen offenbar alles zugleich: den sensiblen Frauenversteher und zarten Streichler, den Testosteron-Heroen und den stürmischen, nach Moschus riechenden Liebhaber. Viele Männer sind mit dieser multifunktionalen Rollenverteilung überfordert.
Hat der moderne Mann echte oder eingebildete Sorgen?
Wenn Männer „echte“ Sorgen haben, gehen sie in Männerbüros - wie das Informationszentrum für Männerfragen in Frankfurt am Main oder das „ mannebüro“ in Zürich. Hier erhalten sie Hilfe in Konflikt- und Krisensituationen, bei sexuellen Problemen, Trennung, Scheidung, Isolation oder Vater-Sohn-Konflikten.Wenn es im Leben von Männern drunter und drüber geht, könnte Unterstützung durch andere Männer hilfreich sein, ist Bernd Drägestein überzeugt. „Männer haben gemerkt, dass die Fragen der Zeit nicht mehr nur in der Skatrunde erörtert werden können.“
Der Pädagoge ist Gründungsmitglied des Instituts für Jungen- und Männerarbeit „mannigfaltig“ in München und seit mehr als 30 Jahren in der Männerarbeit aktiv. In dieser Zeit hat er erlebt, dass immer mehr Jungen und Männer „aufgrund der sich auflösenden traditionellen Männerrollen verunsichert sind und nach Orientierung suchen“ .
Wie holt man(n) Mann aus der Krise?
Die Strategien der Männerbewegung, die Geschlechtsgenossen aus der Krise zu holen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Männer- und Vaterrechts-Bewegungen zum Beispiel wollen die Position von Männern stärken, weil der politische Einfluss des Feminismus angeblich zur „Ungleichbehandlung“ geführt habe.
So klingt die Bilanz, die etwa der Verein „MANNdat“ zieht, tatsächlich ernüchternd: Männer in Deutschland würden im Schnitt fünf Jahre früher sterben als Frauen. 94 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle betreffen Männer, da sie die gefährlichsten Berufe ausüben. Dreimal so viele Männer wie Frauen würden sich das Leben nehmen.
Sind Männer Verlierer der Emanzipation?
Männer seien die Verlierer der Emanzipation: Davon ist der Publizist und Männerrechtsaktivist Arne Hoffmann überzeugt. Jungen bekämen bei gleicher Leistung schlechtere Schulnoten als Mädchen, Männer wären häufiger arbeitslos und seien durch das Scheidungs- und Sorgerecht benachteiligt.
„Unsere Zivilisation beruht darauf, dass Männer zerschunden werden und ihren Schmerz verdrängen müssen – ob im Bergwerk, auf der Ölplattform oder an der Front.“ Hoffmann fordert ein Umdenken zugunsten der Männer. Man dürfe nicht länger so tun, als seien die „Forderungen von Frauen berechtigter als die von Männern“.
Thomas Scheskat lehnt solche ideologischen Grabenkämpfe ab. Die Stärke der Männerbewegung sieht er in ihrer Pluralität und ihrem Pragmatismus. In seinem Göttinger Institut für Männerbildung und Geschlechterbegegnung können Männer ihr „Mann-Sein“ wieder entdecken. „Mann sein ist etwas Tolles“, unterstreicht der Pädagoge. „Es bedeutet Befreiung von Einengungen und Zwängen.“ Männliche Identität sei wie ein „wildes Terrain“, das es „per Expedition“ zu erforschen gelte.
Na dann! Auf ihr „Lonesome Cowboys“! Schwingt Euch auf Eure Rösser und reitet echten Männer-Abenteuern entgegen!
Info: „Wann ist ein Mann ein Mann?“
Männer-Klischees
Schlau sind sie, Pfeife rauchen sie, es drohen Herzinfarkte und – vielleicht am schlimmsten – „dünnes Haar“. Stimmen die „Männer“-Klischees Jahrzehnte nach Erscheinen des legendären Herbert-Grönemeyer-Songs „Wann ist ein Mann ein Mann?“ noch? 2024 wird sein Mega-Hit „Männer“ 40 Jahre alt. Für (manche) Männer ein einschneidendes Alter: Einige lassen sich ihre Geheimratsecken wegmachen, andere hören auf zu rauchen. Zum Internationalen Weltmännertag am 19. November haben wir uns einige Thesen aus Grönemeyers „Männer“ mal näher angeschaut.
„Männer kriegen dünnes Haar“
Egal, ob Jürgen Klopp, Elon Musk oder Christian Lindner: Männer wollen schön sein. Und die mit „dünnem Haar“ lassen sich auch deshalb immer häufiger die Haare transplantieren. Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) zufolge machten Haartransplantationen in diesem Jahr hierzulande etwa 7,1 Prozent unter allen ästhetisch-plastischen Behandlungen aus. Das waren 5,3 Prozentpunkte mehr im Vergleich zu den beiden Vorjahren. Offiziell wird die DGÄPC-Statistik für 2023 am 30. November veröffentlicht. Demnach kletterten Haartransplantationen bei Männern von Rang 15 der beliebtesten Eingriffe in Deutschland auf Rang 5 – ein Rekord. Ein Blick in die verschiedenen Generationen zeigt außerdem: Die Transplantationen sind vor allem bei Männern bis 50 beliebt.
„Männer sind furchtbar schlau“
Schlausein kann vieles bedeuten. Blickt man zum Beispiel auf die Studierenden-Statistik, sieht man: Im Wintersemester 2022/23 gab es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) mehr als 2,9 Millionen Studierende in Deutschland. Demnach waren etwas weniger Männer (49,8 Prozent) als Frauen (50,2 Prozent) eingeschrieben. Als Grönemeyers Lied „Männer“ 1984 rauskam, sah das noch ganz anders aus: Im Wintersemester 1983/1984 waren im damaligen West-Deutschland knapp 1,27 Millionen Studierende eingeschrieben, so das Statistische Bundesamt. Der Männeranteil lag damals bei mehr als 60 Prozent. Allerdings zeigen die Zahlen, dass sich über die Jahre nicht weniger Männer für eine akademische Laufbahn entschieden, sondern eher immer mehr Frauen, sodass die Frauen die Männer heute sogar überholt haben.
„Männer kriegen ‚nen Herzinfarkt“
An Herzinfarkten starben hierzulande 2021 Destatis zufolge rund 45 000 Menschen – 60 Prozent von ihnen Männer. Nach dem Zeiten Weltkrieg nahm die Zahl der Herzinfarkte in den westlichen Ländern ein epidemisches Ausmaß an. Einer WHO-Studie zufolge rührt „der größte Beitrag zum Rückgang der Herzinfarktmortalität bei Männern vom Rückgang des Rauchens“ her. Aber auch der medizinische Fortschritt habe zum Rückgang beigetragen. Laut Destatis sterben in Deutschland immer noch die meisten Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu denen auch Herzinfarkte gehören. Allerdings ist die Chance, einen Infarkt zu überleben, heute höher als in den 1980er Jahren.
„Männer rauchen (Pfeife)“
Generell rauchen heute weniger Menschen als noch vor 40 Jahren. „Etwa seit den 1980er Jahren sind die Anteile der Raucher in der erwachsenen Bevölkerung leicht rückläufig“, so das Bundesgesundheitsministerium. In Deutschland rauchen demnach 23,8 Prozent der Erwachsenen. Männer paffen mit rund 27 Prozent häufiger als Frauen, die etwa zu 21 Prozent rauchen. Destatis zufolge war 2021 der größte Anteil der Raucher in der Altersgruppe von 35 bis 40 Jahren. In dieser Altersgruppe rauchten demnach rund 30 Prozent.