Rudolf Kautz ist als Schachspieler vom Stuttgarter Schlossplatz bekannt. Seit einiger Zeit fordern ihn viele Geflüchtete zu einer Partie heraus. Sie verbindet die Leidenschaft für das Brettspiel.

S-Mitte - Die Schachfigur verschwindet fast in Rudolf Kautz’ Pranke. Sein Springer zieht l-förmig über das Schachbrett und schlägt einen Bauer hier, einen Turm da. Sein Gegenüber ist allerdings ein harter Brocken. Er tippt mit seinen Fingern Felder auf dem Brett an. Er scheint so, seine nächsten Züge im Voraus zu planen. Kautz muss nach einem überraschenden Zug um seinen König fürchten.

Sein Gegenüber ruft: „Sheik“. Auf Arabisch heißt das „Scheich“ und nicht „Schach“. Er müsste auf Arabisch eigentlich „Kish Melek“ rufen. Aber der Mann spricht mit Kautz Deutsch, auch wenn sich sein „Schach“ so zumindest für arabische Ohren lustig anhören mag.

Der Mann wird noch einige Male „Sheik“ rufen und damit „Schach“ meinen. Dann vollbringt er ein Wunder: Kautz, seit Jahren nur als Schachspieler vom Schlossplatz bekannt, gibt sich schachmatt.

Ein Syrer schaut Kautz zu

Ein junger Syrer sitzt neben Kautz auf einem Schemel. Seinen Namen will er auf Nachfrage nicht nennen. Verwandte lebten in einem von der Assad-Regierung kontrollierten Teil des Landes, erzählt er. Da sei es besser, nicht in einer deutschen Zeitung aufzutauchen. Er studiere nun Mathematik in Stuttgart, erzählt er. Er schaue in seiner Freizeit oft Kautz beim Spielen zu, meint der junge Mann. „Wir sind Freunde geworden. Rudolf kennt sogar meine Familie inzwischen“, sagt er.

Mathematik und Schach passen nach geläufiger Meinung ungefähr so gut zusammen wie Musik und Malerei. Dennoch will der Mathematikstudent das Spiel in seiner Heimat noch gar nicht beherrscht haben. Er habe auf der Königstraße gesehen, dass Kautz sich gegen einen Obolus herausfordern lässt. Die erste Partie der beiden habe dann so geendet wie sie enden musste, mit der Niederlage des Syrers.

Kautz sei aber dann so etwas wie sein Privatlehrer geworden, erzählt der Syrer. „Mittlerweile liebe ich das Spiel“, sagt er. Der Syrer verfolgt mit gebannten Augen, während sich Kautz und seine Gegner auf dem Schachbrett beharken.

Araber spielen gern Brettspiele

Um Kautz, den Syrer und seinen Gegner steht eine weitere Gruppe, die in dieser Zusammensetzung auch eine Tasse Kaffee in der New Yorker Kantine der Vereinten Nationen trinken könnte. Zwei Eritreer, ein Ägypter, zwei Franzosen und ein Deutscher schauen gemeinsam dem Schachspieler und seinen Herausforderern zu. Kautz bestätigt, dass seit einiger Zeit besonders viele, die aus einem anderen Land nach Deutschland geflohen sind, gegen ihn antreten wollen. Syrer, Iraner, Afghanen zählt er auf.

Die Frage, was er von seinem Freund aus Syrien über dessen Kultur gelernt hat, beantwortet Kautz mit einem Schulterzucken. Vielleicht, weil die beiden andere Gesprächsthemen haben als Religionen und unterschiedliche Traditionen. Kautz scheint sich auch nicht sonderlich dafür zu interessieren, warum so viele Geflüchtete mit ihm spielen wollen. „Für mich sind alle Menschen gleich“, sagt er ganz der Philosoph.

Der Syrer neben ihm versucht es mit etwas Analyse. In arabischen Ländern sei es ein üblicher Anblick, dass Menschen zusammen auf der Straße bei einem Brettspiel sitzen. „Wenn Araber Rudolf beim Schach zusehen, fühlen sie sich wie zuhause“, sagt er. Ein anderer Mann tippt Kautz auf die Schulter, während er sich auf seine nächste Partie vorbereitet. Kautz und der Mann sprechen Russisch. „Ich bin in Kasachstan geboren“, sagt Kautz. Seine Lebensgeschichte hat ihn Tausende Kilometer von der ehemaligen Sowjetrepublik in die Landeshauptstadt geführt. Dass nun andere aus einer anderen Himmelsrichtung gekommen sind, um ihn Stuttgart gegen ihn zu spielen, erstaunt ihn wohl weniger als mancher Zug eines Gegners. So trifft sich eben die Welt beim Schach auf dem Schlossplatz.