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Der Roman „Inherent Vice“ wurde unter dem Titel „Natürliche Mängel“ ins Deutsche übertragen.

Stuttgart - Immer ist es eine Frau, die die Dinge ins Rollen bringt, ganz gleich, ob der Detektiv nun Philip Marlowe heißt oder Doc Sportello. In Thomas Pynchons Roman "Inherent Vice" heißt sie Sashta Fay Hepworth, trägt manchmal ein "Country Joe & The Fish"-T-Shirt und ein Bikinihöschen und ist die Ex-Freundin des Investigators. Bald schon ist sie von der Bildfläche verschwunden, und Doc Sportello, Hippie mit gepflegter Afrofrisur, geplagt von Eifersucht, ermittelt auf eigene Faust weiter, im Fall des verschwundenen Baulöwen Mickey Wolfmann, des erschossenen Bodyguards Glen Charlock und des untergetauchten Surf-Saxofonisten Coy Harlingen.

Vor der Küste Kaliforniens liegt ein mysteriöser Schoner, der Goldene Fang, Sinnbild einer unfassbaren und allgegenwärtigen Organisation des Bösen; Doc begegnet koksenden, lüsternen Zahnärzten, psychotischen reichen Töchtern, erleuchteten Surfern, sentimentalen Polizisten, sadistischen Killern im Auftrag der Polizeibehörde, prügelnden Nazis, bösen Geistern und zombifizierten Musikern. Die Szene ist Gordita Beach, eine fiktive Ansiedlung von Hippies, Drogenkonsumenten und Surfern, mutmaßlich gelegen in der Bucht von Santa Monica, nördlich von Los Angeles, die 60er Jahre nähern sich ihrem Ende, der Albtraum der Manson-Morde schwebt als Verhängnis über dem Hippieparadies, die Unschuld der Gegenkultur ist dahin, es führt kein Weg zurück, in den Garten. Überall kündigt sich eine ungewisse Zukunft an: TV-Fernsteuerungen setzen Konsumenten in Erstaunen, die ersten Vorläufer des Internets tauchen auf. In einer Szene fährt Doc Sportello an einer Reihe von Kabinen vorbei, in jeder ein Musikfan mit Kopfhörer: "Womöglich hatten einige von ihnen sogar dafür bezahlt." Vorbei der Traum von der großen Gemeinschaft, von Rock'n'Roll und Revolution, geblieben sind bürgerliche Nomaden in der Isolation ihrer Exklusivität, im Rausch des Konsums. Der Goldene Fang (Reißzahn) ist ein Bild von gewollter Banalität für das neoliberale Kapital, das sich anschickt, die Ideale der 60er zu verschlingen - er betreibt Drogenschmuggel und Entwöhnungskliniken zugleich, Profitmaximierung resolut.

Doc Sportello ist nur auf den ersten Blick ein bekiffter Loser

Man sollte "Natürliche Mängel" keinesfalls als nostalgische Hippie-Fantasie verkennen, als einen im ganz speziellen Sinne historischen Roman oder gar als verladene Kifferprosa. Thomas Pynchon, der im Frühjahr 73 wurde, ist ein virtuoser Stilist, der sich dieser und anderer Klischees mit Raffinesse bedient. Seine Hauptvorlage hier ist der Kriminalroman der Schwarzen Serie; wer Parallelen zu Raymond Chandlers Meisterwerken "The Big Sleep" und "The Long Goodbye" sucht, der wird sie finden, haufenweise. Pynchons Wahl erklärt sich nicht zuletzt aus dem Helden, den Chandler schuf: ein lakonischer "tough guy", der tief in seinem Innern ein Idealist geblieben ist.

Doc Sportello ist nur auf den ersten Blick ein bekiffter Loser - tatsächlich macht er sich höchst professionell an die Arbeit, wechselt allenthalben seine extravaganten Verkleidungen, schleicht sich geschickt ein ins Privatsanatorium, in dem Mickey Wolfmann, der Magnat, der einen Trip geschluckt hat und daraufhin begann, all sein Geld in ein utopisches Bauprojekt zu stecken oder zu verschenken, von seinem altruistischen Wahn kuriert wird. Sportello liefert schließlich, mit der Waffe in der Hand, einen Showdown, auf den auch Marlowe stolz gewesen wäre. Und folgt, wie dieser, seltsam unprofessionellen Motiven, ist letztlich unterwegs, um seinen Traum oder den Traum seiner Generation zu retten, in kleinen Gesten: Ganz uneigennützig verhilft er dem Ex-Junkie Harlingen, seiner Tochter Amethyst und seiner Frau, die den schönen Hippienamen Hope trägt, zu einer gemeinsamen, drogenfreien Zukunft. Am Ende des Buchs zieht Nebel auf über der kalifornischen Küste, und Doc Sportello, dessen Gedächtnis unentwegt in anderen Nebeln untergeht, steht mit seinem Wagen im Stau und träumt von den vagen Möglichkeiten einer lebenswerten Zukunft. Der Leser kennt diese Zukunft. "Natürliche Mängel" ist ein Buch, das allenthalben, zwischen den Zeilen, Fragen an die Gegenwart stellt. Der Titel "Inherent Vice" wird im Buch selbst erklärt: Es ist ein stehender Begriff des maritimen Versicherungsrechts für unvermeidliche Transportschäden, es hat aber auch den Bedeutungsanklang der Erbsünde - der Vertreibung aus dem Paradies.

"Natürliche Mängel" ist ein dichter, komplexer Text, voller Verweise auf Filmklassiker, Fernsehserien, Popsongs, Cartoons, politische Geschehnisse und Hippie-Mythen. Auch die Subkultur der Doper, Pusher, Surfer, Star-Trek-süchtigen Aussteiger und was der burlesk überzeichneten Figuren noch sind, die hier auftreten, ist eine Enzyklopädie. Sie alle verwechseln die Wirklichkeit früher oder später mit einer Seifenoper, vielleicht ist das ihr "Natürlicher Mangel".

Denis, Doc Sportellos Nachbar, bringt in bekifftem Zustand Stunden damit zu, ein riesiges Paket voller Heroin anzustarren, das er für ein Fernsehgerät hält. Da sieht man, welch boshafte Wege der Humor des Thomas Pynchon gehen kann.