Der Studie zufolge sind 60 Prozent der Frauen mit Behinderung von psychischer und zwischen 74 und 90 Prozent von körperlicher Gewalt betroffen. Foto: dapd

Teils neun von zehn Frauen betroffen – In Einrichtungen für Behinderte fühlen sich oft viele nicht sicher.

Stuttgart - Frauen, die eine Behinderung haben, werden oft Opfer von Übergriffen. Vor allem in Behinderteneinrichtungen fühlen sich viele nicht sicher. In Stuttgart soll ein Projekt Abhilfe schaffen.

Jüngst lud der Frauenberatungs- und Therapiezentrum Stuttgart e.V. (Fetz) zum Runden Tisch mit dem Thema „Sexuelle Gewalt gegen Frauen mit Behinderung“ ein. Rund 40 vorwiegend weibliche Führungskräfte aus verschiedenen Bereichen fanden sich zum zweiten Runden Tisch des Fetz im Bürgerzentrum West ein. Was sie dort zu hören bekamen, erschütterte sie.

Diskriminierung, Benachteiligung, Bevormundung, seelische Grausamkeiten

Die Ergebnisse der neuen Studie „Lebenssituation und Belastung von Frauen mit Behinderungen in Deutschland“, die die Bielefelder Politologin und Soziologin Monika Schröttle darlegte, haben es in sich. Die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebene Studie beschäftigte sich als erste repräsentative Untersuchung mit der Lebenssituation und den Belastungen von Frauen mit Behinderung und brachte erschreckende Zahlen im Bereich psychischer, physischer und sexueller Gewalt gegen Frauen mit Handicap ans Licht.

Der Studie zufolge sind 60 Prozent der Frauen mit Behinderung von psychischer und zwischen 74 und 90 Prozent von körperlicher Gewalt betroffen. Das sei rund dreimal so viel wie der deutsche Durchschnittswert, berichtete Projektleiterin Schröttle. Sie hatte bereits 2004 eine ähnliche Studie über Frauen ohne Handicap in Deutschland abgeschlossen.

Jede dritte bis fünfte Frau mit Behinderung war laut der in den Jahren 2009 bis 2011 gemachten Untersuchung Opfer von sexueller Nötigung oder Vergewaltigung. Die Studie enthüllte auch die strukturelle Gewalt, die durch das nahe Umfeld der körperlich und geistig eingeschränkten Frauen ausgeübt wird. Von Diskriminierung, Benachteiligung und Bevormundung über Verletzungen der Privatsphäre und Selbstbestimmung bis hin zu seelischen Grausamkeiten und Übergriffen berichteten die über 1500 Befragten. Vor allem in Behinderteneinrichtungen fürchteten Frauen sich vor Gewalt durch Bewohner und Personal.

Menschen werden wegen einer Behinderung stark abgewertet

„Eine Frau erzählte, dass nicht sie, sondern nur ihre Behinderung von ihren Eltern gesehen wurde“, sagte Schröttle. Auch von der starken Abwertung aufgrund einer Behinderung berichteten viele Befragte und entschuldigten die psychische Gewalt ihres Umfelds teilweise damit, dass sie eine Last für ihre Umgebung darstellten.

Im Fall von Übergriffen wurde die Polizei selten alarmiert, zu Verfahren kam es kaum, fanden die Forscher heraus. Viele Menschen nähmen Grenzverletzungen gegenüber Frauen mit Behinderung nicht ernst genug, so die Referentin. Und viele Befragte trauten sich nicht auszusagen, da sie befürchteten, dass ihnen niemand glaube. Auch in Paarbeziehungen reagierten die meisten Frauen erst bei schwerer körperlicher Gewalt. Im Durchschnitt sind 13 Prozent der deutschen Frauen von Gewalt in der Beziehung betroffen, bei Frauen mit Behinderung sind es mit bis zu 41 Prozent dreimal so viel.

„Die Frauen brauchen vor allem mehr psychisch barrierefreie Anlaufstellen“

Dennoch seien die Erkenntnisse kein Grund zur Resignation, erklärte Schröttle, sondern sollten als Ansporn zur Beseitigung der Missstände dienen. „Die Frauen brauchen mehr niederschwellige und vor allem psychisch barrierefreie Anlaufstellen“, so Schröttle. Diese könnten beispielsweise durch das Einsetzen von einrichtungsinternen Gleichstellungsbeauftragten geschaffen werden. Auch Maßnahmen zur Stärkung des Selbstvertrauens und des Abbaus von Diskriminierungen seien wichtig.

Das Vorgehen gegen die strukturelle Gewalt in Einrichtungen, wie zum Beispiel der Zwang in einem Raum zu bleiben oder nicht frei entscheiden zu dürfen, und das Beseitigen von Hindernissen für die Frauen mit Behinderung durch Ämter und Behörden wurde ebenfalls von allen Teilnehmern als notwendig erkannt. Auch soll das Umfeld der Frauen mit Behinderung stärker unterstützt werden, so dass Diskriminierungen minimiert werden können.

Ein Weg zur Abhilfe könnten Projekte wie „Leben in Sicherheit für alle“ (Lisa) sein. Mit Aufklärungsmaterial in einfacher Sprache und durch die Sensibilisierung der Öffentlichkeit versuchen die Fetz-Mitarbeiterinnen seit Oktober 2010, gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen mit Behinderung anzugehen. Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer lobt das Projekt: „Lisa ist ein wichtiger erster Schritt gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen mit Behinderung.“