Jens Lamprecht (Thorsten Merten) gefangen im Smarthome.        Foto: SWR/Studio.tv.film/Oliver Feist

In Axel Ranischs verblüffend facettenreicher Serie „Nackt über Berlin“ mit Thorsten Merten geht es nur vordergründig um einen scheinbaren Schülerschabernack.

Zwei Jugendliche entführen ihren Rektor – das klingt nach einem Drei-Personen-Stück mit Drama-Potenzial. Zumal gleich die erste Szene das offenbar leblose Opfer mit geöffneten Pulsadern in der Badewanne zeigt; aber ist das genug Stoff für eine Serie? Eindeutig ja, wenn eine Entwicklung so überraschend ist wie in „Nackt über Berlin“.

Die vermeintlich überschaubare Handlung offenbart ungeahnte Abgründe: Was wie ein Schülerstreich beginnt, wandelt sich zu einer bemerkenswert komplexen Geschichte, die sogar Krimi-Elemente enthält. Die scheinbar spontane Tat entpuppt sich als perfider Plan, der den Rektor zu einem Geständnis zwingen soll: Jens Lamprecht hat erhebliche Schuld auf sich geladen.

Schwierige Adoleszenz mit Coming-out

Der Grimme-Preisträger Axel Ranisch, der seinen eigenen Roman gemeinsam mit seinem bewährten Co-Autor Sönke Andresen adaptiert hat, erzählt eine zweifache Coming-out-Geschichte: Jannik (Lorenzo Germeno) ist ziemlich korpulent und deshalb ein Außenseiter an seiner Berliner Schule; außerdem ist er schwul, aber das weiß er zu Beginn noch nicht. Das Drehbuch kombiniert also ein „Coming of Age“ über die schwierige Adoleszenz eines jungen Mannes mit seinem Coming-out. Partner in crime und fast auch Geliebter ist der wegen seiner vietnamesischen Wurzeln ebenfalls gemobbte Mitschüler Tai (Anh Khoa Tran). Als er eines Abends dem völlig betrunkenen Rektor begegnet, beschließt er, den Mann in seiner eigenen Wohnung einzusperren.

Lamprecht lebt in einem Smarthome, weshalb der computeraffine Tai fortan Gott spielen und zum Beispiel Wasser und Strom nach Belieben ein- und ausschalten kann. Die digitale Verbindung zur Außenwelt ist ohnehin rasch gekappt, aber via Bluetooth ist „Gott“ in der leer stehenden Nachbarwohnung dank Lamprechts Laptop-Kamera stets auf dem Laufenden.

Eine Weile weidet sich die Handlung an dieser „Herr und Sklave“-Konstellation, doch dann nimmt die Serie genau im richtigen Moment eine ungleich größere Dimension an: Tai ist überzeugt, dass der Rektor für den Suizid der Mitschülerin Melanie verantwortlich ist, für die der Junge aus der Ferne geschwärmt hat. In Rückblenden erzählt Ranisch nun die Vorgeschichte des tragischen Ereignisses. Zwischendurch gibt es kurze Ausflüge in Janniks Familie (Devid Striesow und Alwara Höfels spielen die Eltern).

Thorsten Merten ist immer sehenswert

Ranisch ist ein „Filmsohn“ von Rosa von Praunheim, was sich in „Nackt über Berlin“ vor allem an den fantasievollen Exkursen zeigt. Wann immer Jannik, eine Art jugendliches Alter Ego des Regisseurs, in eine Traumwelt abdriftet, verwandelt sich die Inszenierung in ein Bühnenstück, in dem er allerlei nicht immer jugendfreie Abenteuer erlebt. Diese Momente, in denen er verarbeitet, was ihm tagsüber widerfahren ist, sind regelmäßig verblüffend und bereichern die Serie um ein sehr ungewöhnliches Element. Lorenzo Germeno, bekannt geworden als Titeldarsteller des Jugendfilms „Winnetous Sohn“ (2015), verkörpert famos die Metamorphose vom kindlichen Außenseiter zum selbstbewussten jungen Mann.

Thorsten Merten, selten besungen, ist ohnehin immer sehenswert, als Rektor Lamprecht macht er eine läuternde Wandlung durch. Eine weitere Hauptrolle ist rein akustischer Natur: Klassikliebhaber Jannik kennt für jede Lebenslage das passende Tschaikowski-Stück, weshalb Martina Eisenreichs Filmmusik auch eine Hommage an den großen russischen Komponisten ist.

Nackt über Berlin: Arte (Freitag, 13.10., 20.15 Uhr) und die ARD (Samstag, 14.10., 22.20 Uhr) zeigen alle Folgen am Stück. Die Serie steht bereits komplett in den Mediatheken beider Sender.