Einmal monatlich Diskussionsraum für Stadtteilprojekte – das Labor Süd. Foto: Raffaele Hieber

Noch kurz eine Zucchini fürs Abendessen pflücken, ohne dafür bezahlen zu müssen – ein Traum, der in manchen Stadtteilen Realität werden könnte. Im Stuttgarter Süden wollen Nachbarinnen und Nachbarn den Erwin-Schoettle-Platz mit essbaren Pflanzen begrünen.

Es ist Abend und die Frühlingssonne kämpft sich ihren Weg durch die Straßenschluchten im Kessel. In der Außenstelle des Familienzentrums MüZe Süd in der Böblinger Straße findet das „Labor Süd“ statt. Bei diesem offenen Treffen gibt es einmal im Monat Raum für Themen aus der Nachbarschaft, jeder und jede darf dazukommen. „Man muss die Menschen wieder zusammenbringen“, erzählt Barbara Bansbach, die Koordinatorin des MüZe Süd. In gemütlicher Wohnzimmeratmosphäre kann die Nachbarschaft bei Limonade oder Kräutertee miteinander ins Gespräch kommen.

An diesem Tag geht es darum, wie Stuttgart zu einer „Essbaren Stadt“ werden kann. Es ist das erste Treffen zu diesem Thema im Labor Süd, zehn Personen sind gekommen. Carina Hieronymi und Martin Wunderlich berichten über ihr Nachbarschaftsprojekt „Kleine Wildnis“ in Hedelfingen. Die beiden haben schon Erfahrung in Sachen essbare Stadt. „Wir denken, wir brauchen gute Lösungen für die Klimakrise und glauben, dass eine solidarische Nachbarschaft, die die Stadt essbar macht, eine gute Antwort darauf ist,“ erzählt Martin Wunderlich. „Es gibt unglaublich viele Grünflächen, die nicht genutzt werden. Manchmal klingeln wir bei den Leuten und fragen nach, ob sie sich vorstellen können, aus der Fläche vor Ihrem Haus eine essbare Grünfläche zu machen.“ Wunderlich sagt, es sei gut, da anzufangen, wo die Menschen wohnen. Dann würden sie auch Verantwortung für die Flächen außerhalb ihrer Wohnflächen übernehmen: „Das ist unsere Stadt und wir sollten sie gemeinsam ökologisch gestalten.“

„Pflücken erlaubt“ statt „Betreten verboten“

In einer „Essbaren Stadt“ können die Menschen Lebensmittel auf einer Gemeinschaftsfläche anbauen und dadurch ihr Viertel aktiv mitgestalten. So lernt man seine Nachbarinnen und Nachbarn kennen und wird Teil einer Gemeinschaft. Der hübsche Nebeneffekt: Man kann sich immer etwas Frisches für zuhause pflücken. Von Hochbeeten in Fußgängerzonen, Gemüsegärten in Parks oder Kräutergärten in Schulen ist alles möglich. Für die Idee sei keine Grünfläche zu klein. Ob auf dem Balkon oder auf einer Baumscheibe vor der Haustür - die Natur könne für mehr Lebensqualität in der Stadt sorgen. „Oftmals trägt ein Baum oder ein Strauch so viele Früchte, dass man sie selbst gar nicht auf einen Schlag verwenden kann“, erzählt Martin Wunderlich. Teilen, was sonst verloren geht, das ist hier das Motto.

Essbare Städte in Deutschland

Andernach, Kassel, Trier, Köln – in einigen deutschen Städten ist die „Essbare Stadt“ bereits Realität. Im März erhielt die „Essbare Stadt Köln“ für ihr Konzept eine internationale Auszeichnung. Judith Mayer sitzt im Kölner Ernährungsrat und ist Projektkoordinatorin der Essbaren Stadt Köln. Was rät sie anderen Städten, die bei dem Thema noch ganz am Anfang stehen? „Am wichtigsten ist die Vernetzung der verschiedenen Akteur*innen. Dazu können Anwohner*innen, Gemeinschaftsgärten, Kleingartenvereine, Schulen und auch wirtschaftliche Betriebe gehören. Dann muss die Idee verbreitet werden, zum Beispiel in der Stadtverwaltung, um dort Unterstützung zu gewinnen und politische Beschlüsse und Umsetzung zu erreichen. Über einen Projektantrag bekommt man vielleicht Zuschüsse für die Finanzierung“, sagt sie.

Warum nicht einfach Essbares pflanzen?

Gerade im Frühling fällt das Werk der Stuttgarter Landschaftsgärtner besonders auf: Tulpen, Osterglocken und Krokusse und machen den Kessel bunt. Aber was wäre, wenn statt dessen Essbares gepflanzt würde, an dem sich jeder und jede bedienen darf? Sind essbare Pflanzen vielleicht sogar günstiger und pflegeleichter als Zierpflanzen? „Allgemein lässt sich das nicht feststellen“, erzählt die Landschaftsgärtnerin Anika Opferkuch. Jede Pflanze hat ihre eigenen Ansprüche und Bedürfnisse, egal ob genießbar oder nicht. Wichtig ist: Nicht jede Pflanze ist für die Stadt geeignet. Hier lauern Hitze, Trockenheit, Abgase, Schädlinge oder Zugluft, die einigen Pflanzen gar nicht gut bekommen. Entscheidend ist auch die Pflegestufe der Pflanze – Obstbäume beispielsweise müssen regelmäßig geschnitten werden, damit die Früchte auch gut gedeihen können. „Wenn Obstgehölz zu dicht wächst, dann verkümmern die Bäume und man bekommt am Ende nur eine kleine, saure Birne – die will dann ja auch niemand essen. Andere Bäume verzeihen einem eher, wenn man sie zwei bis drei Jahre nicht schneidet und dann einen radikalen Schnitt macht“, sagt die Landschaftsgärtnerin. Selbst wenn der Baum dann schöne, reife Früchte trägt, bezweifelt die Expertin, dass diese Früchte tatsächlich verbraucht werden. Sie ist nicht überzeugt davon, dass „die Leute sich eine Leiter mit in die Stadt nehmen, um auch die oberen Früchte zu pflücken.“

Aber es gebe auch essbare Pflanzen, die sich hervorragend für die Stadt eignen. „Mangold wächst quasi überall und ist besonders pflegeleicht. Bei Sträuchern empfiehlt sich besonders die Kupfer- Felsenbirne, die erkennt man auch bereits an manchen Ecken. Die hat eine kleine, essbare Frucht, von der man prima naschen kann.“ Essbare Pflanzen und Sträucher müssten allerdings entsprechend gekennzeichnet werden – damit vor allem Kinder lernen könnten, von welchen Sträuchern sie essen dürfen und welche giftig für sie sind.

Generell begrüßt Opferkuch die Idee einer Essbaren Stadt. „Ich bin ein totaler Fan von Urban Gardening und Stuttgart hat ja auch viele schöne Plätze, bei denen sich das gut anbietet. Es ist nur wichtig, dass man allen Menschen die Idee und den Sinn dahinter vermitteln kann, damit es auch keine Probleme mit Vandalismus gibt.“ Essenziell sei es aber, dass die Menschen sich aktiv um die Pflanzen kümmerten und die Pflege und Instandhaltung nicht auf die Stadt abgewälzt werde, sagt Opferkuch.

Die Zukunft des Erwin-Schoettle-Platzes

Dass sich Ehrenamtliche aktiv um die Grünflächen einer Essbaren Stadt kümmern, ist Teil des Konzepts. Pflücken dürfen aber alle. Strebt die Stadt das Konzept der Essbaren Stadt in Stuttgart an? „Nein“, lautet die klare Antwort. „Momentan liegt der Fokus auf der Pflanzung klimaresilienter Baumarten“, heißt es von Seiten der Stadt. Jährlich stehen in Stuttgart für die Begrünung und Instandhaltung öffentlicher Grünflächen rund 1 Million Euro zur Verfügung. Ob es günstiger wäre, gezielt essbare Pflanzen anstelle von Zierpflanzen zu verwenden? „Der Gesamtaufwand wäre gleich“, sagt eine Sprecherin.

Ob und wann der Erwin-Schoettle-Platz essbar wird, steht derzeit noch in den Sternen. Erst mal gilt es, mehr Stuttgarter von der Idee zu überzeugen. Dazu soll es am 8. Mai ab 18 Uhr eine Info-Veranstaltung mit Vesper auf dem Platz geben.