Einen Tag vor dem 150. Geburtstag des russischen Schriftstellers bringt der

Einen Tag vor dem 150. Geburtstag des russischen Schriftstellers bringt der Regisseur Michael Thalheimer Anton Tschechows letztes Stück ¸¸Der Kirschgarten' zur Aufführung.

Von Nicole Golombek

Tschechow war entsetzt. Stanislavskij hat mein Stück ruiniert, schrieb er nach der Uraufführung des ¸¸Kirschgartens' am 17. Januar 1904. Der Dramatiker hatte den Text ausdrücklich als Komödie bezeichnet, als ¸¸mutwilligen Spaß', Stanislavskij inszenierte eine Tragödie. Tschechow wollte kein seelenvolles Leiden und Jammern sehen.

Warum auch? Menschen leben über ihre Verhältnisse, langweilen sich, trinken, feiern, versteigern einen Kirschgarten und trennen sich. Sie sind unglücklich verliebt, sie machen sich lächerlich. Keine Kriege werden geführt, keine Weltgeschichte wird geschrieben. Es gibt kaum eine Handlung, nicht einmal Hochzeiten und Todesfälle. Das absurde Theater ist nah.

¸¸There was never a smile like his.' Michael Thalheimer zitiert an diesem Nachmittag im Foyer des Stuttgarter Schauspiels Samuel Becketts Liebeserklärung an Tschechow. ¸¸Tschechow', sagt er, ¸¸hat die Regieanweisungen mit einem Augenzwinkern geschrieben. Das ist seine Antwort darauf, wie er die Welt, wie er den Menschen sieht. Er betrachtet die Menschen mit einem Lächeln, und dieses Lächeln muss man unglaublich ernst nehmen.'

Es wird bei Michael Thalheimer, der das Stück im Schauspielhaus inszeniert, keine derbe Komödie geben, so viel ist klar. Der Regisseur zelebriert das Leiden mit großer Geste. Mit Schweigen, mit Musik, mit Gesten, die oft das Gegenteil dessen ausdrücken, was gerade gesagt wird. In Goethes ¸¸Faust' am Deutschen Theater in Berlin ließ er Ingo Hülsmanns Faust erst fünf Minuten lang schweigen und dann, auf der Stelle stehend, einen fast halbstündigen Monolog rezitieren.

Kürzlich in seiner vielgelobten Doppelinszenierung der Sophokles-Dramen ¸¸Ödipus' und ¸¸Antigone' am Schauspiel Frankfurt vollführte Marc Oliver Schulze als Ödipus, auf hohen Holzschuhen balancierend, verquälte Verrenkungen. Der Körper erzählt, was der Mensch sich nicht eingestehen will: dass er im Zentrum des großen Unglücks steht, das er gerade aufklärt - dass er es war, der den Vater ermordet und dann die Mutter geheiratet hat.

Es war eine vierstündige Produktion, aber Thalheimer-Abende sind oft kurz. Der Regisseur verknappt, skelettiert, nichts soll von dem ablenken, was er den Kern einer Figur, einer Szene nennt. Vor der Bühnenprobe steht heftige Arbeit am Text.

¸¸Man versucht, den Kern einer Figur herauszuschälen', sagt Thalheimer. Ranewskaja zum Beispiel, die aus Paris zurückkehrt und ihren Kirschgarten partout nicht verkaufen will, obwohl sie so ihr verschuldetes Gut retten könnte. ¸¸Bei ihr ist es schwierig, diesen Kern zu greifen. Sie rennt ständig vor etwas weg, auch vor sich selbst. Sie ist definitiv entscheidungsunbegabt.'

Was das Entkernen betrifft, findet Thalheimer in Tschechow einen Meister. In seinen ¸¸Drei Schwestern' am Deutschen Theater in Berlin gab es kaum Kürzungen, und so hält er es jetzt auch. ¸¸Tschechow hat es gereizt, alles Überflüssige zu vermeiden', sagt Michael Thalheimer. ¸¸Er selbst hat immer wieder vieles umgearbeitet und gestrichen. Von einem ganzen Monolog blieb manchmal nicht mehr als ein Satz. Man kann den Worten sehr vertrauen, das macht es erst mal spannend. Und es gibt einige Fallhöhen in dieser Partitur. Wie erzählt man diese Langeweile und die Tatsache, dass nichts passiert?'

Wie macht man das? ¸¸Daran arbeiten wir. Ich weiß es auch erst am Samstag bei der Premiere.' Seine Stimme ist sanft, er wirkt entspannt. Doch man ahnt, dass er sehr genau weiß, was er will, wenn er von den Endproben spricht. Von der Präzision im Spiel, von der Haltung, die so wichtig sei, wenn man ohne Requisiten und mit einem schlichten Bühnenbild auskommt. ¸¸Die Schauspieler müssen das zwei Stunden lang durchhalten. Der Zuschauer muss glauben, was sie da erzählen.'

Michael Thalheimers Arbeiten polarisieren. Seine Inszenierung von Molnárs ¸¸Liliom' ist ebenso berühmt geworden wie der Zwischenruf des damaligen Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi bei der Premiere: ¸¸Das ist doch ein anständiges Stück, das muss man doch nicht so spielen!' Mit der von Rummelplatzseligkeit befreiten und auf die Beziehungsgrausamkeit konzentrierten Regiearbeit wurde er 2000 erstmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen - ebenso wie mit Thomas Vinterbergs ¸¸Das Fest'.

Diese Theaterversion des Films hatte Thalheimer in Dresden herausgebracht, Stuttgarts Intendant Hasko Weber war dort Oberspielleiter. ¸¸Hasko hat mir, einem jungen und unbekannten Regisseur, eine Chance gegeben. Ich vergesse so etwas nicht.' Der 44-Jährige ist inzwischen einer der vielgefragten Regisseure in Schauspiel und Oper, zuletzt war er 2007 beim Schaulauf der Besten in Berlin vertreten. Mit Hauptmanns ¸¸Ratten' und mit Aischylos' ¸¸Orestie', einer Inszenierung, die einen Literaturkritiker derart in Rage brachte, dass er den Regisseur verwechselte und Christoph Marthaler dafür beschimpfte.

Bekannt wurde das Szenenfoto mit der blutüberströmten Klytaimestra (von der beeindruckenden Constanze Becker gespielt), die den Mord an ihrer Tochter rächt. ¸¸Tun! Leiden! Lernen!', kommentierte der Chor in herrischem Ton die Grausamkeiten. Doch aus der Geschichte lernt man nicht, das macht Thalheimers kühl-harte Inszenierung klar.

¸¸Es fehlt die positive Idee.' Das hielt man Anton Tschechow vor, und man hält es Michael Thalheimer vor. ¸¸Es gibt Menschen, die brauchen eine positive Idee. Ich zähle mich nicht dazu. Literatur, Oper, Schauspiel entstehen selten aus einem Glücksgefühl heraus. Kunst entsteht aus einem Manko, aus Schmerz und Unzufriedenheit.' Abgesehen davon kann der Regisseur Tschechow durchaus Positives abgewinnen: ¸¸Es ist ja anders als in der antiken Tragödie. Es geht bei Tschechow um sehr viel Belangloses, Alltägliches. Er beobachtet die Schwächen, die kleinen Tragödien mit einer Genauigkeit, die berührt. Er sagt: So ist das halt. Und das hat doch auch etwas Beruhigendes!' Michael Thalheimer - und da zeigt sich, dass er auch Schauspieler ist - erklärt mit verzweifelt heiterer Miene: ¸¸Was ich zeige, ist von einem dunklen Weltbild geprägt, was nicht heißt, dass ich depressiv bin. Ich bin verheiratet, habe drei Kinder, ich bin ein fröhlicher Mensch.'

Moralische Lektionen will er nicht erteilen. Er zeigt eindrücklich, wie Menschen sich, selbst wenn sie könnten, meistens eben nicht für das Wahre, Gute und Schöne entscheiden. ¸¸Wenn ich die Welt betrachte, habe ich eher den Eindruck, es wird schlimmer. Mit dem Prinzip Hoffnung tue ich mich schwer. Es ist toll, wenn Einzelne Gutes tun, aber ob es die Gesellschaft weiterbringt, bezweifle ich.'