Yilmaz Gürkan wollte 1965 eigentlich nur einen Sommer im Schwäbischen bleiben.

Yilmaz Gürkan wollte 1965 eigentlich nur einen Sommer im Schwäbischen bleiben. Zu fremd erschien dem Türken das Land. Aus sechs Wochen sind 45 Jahre geworden. Heute vermittelt der 61-Jährige als Sozialarbeiter und Streitschlichter zwischen zwei Welten.

Von Jürgen Bock

Herr Gürkan, wahrscheinlich halten Sie den Rekord für den längsten Sommerurlaub der Welt.

Das ist wohl richtig. 1965 kam ich nach dem Abitur in der Türkei auf Besuch zu meinen Eltern, die bereits in Aalen lebten. Danach wollte ich zum Studium zurück in die Türkei. In Deutschland war es schrecklich für mich: Alles war die ganze Zeit grau in grau, es regnete ständig, ich hatte keinerlei Sprachkenntnisse. Ich habe meine Mutter sechs Wochen lang angefleht, mich bald zurückzuschicken. Und jetzt bin ich immer noch da. Ich bin praktisch immer noch in den Sommerferien.

Was hat Sie denn bewogen, doch zu bleiben? Das Wetter kann es ja nicht gewesen sein.

Ich war bei einem Tagesausflug des Betriebs meiner Eltern an den Bodensee dabei. Da war schönes Wetter, ich habe Deutsche kennengelernt und mich zum ersten Mal hier wohlgefühlt. Danach war alles anders.

Sie sind geblieben und haben erst einmal das Klischee erfüllt, das heute noch mancher Deutsche über Türken im Kopf hat: Sie haben eine Schneiderlehre gemacht.

Mein Abitur aus der Türkei wurde nicht anerkannt, deshalb habe ich zunächst als Herrenbekleidungsschneider gearbeitet. Ich wollte aber immer mit Menschen arbeiten und habe deshalb auch später ein Psychologiestudium in Berlin begonnen. Das war mir aber zu theoretisch, und ich hab"s nach vier Semestern wieder gelassen.

Heute sind Sie Sozialarbeiter. Nicht direkt das, was man von einem gelernten Schneider erwartet. Wie kam es zu dieser Kehrtwende?

Wie gesagt habe ich eine Arbeit mit Menschen gesucht. 1974 habe ich im Radio von einer Ausschreibung der Arbeiterwohlfahrt gehört. Die suchten einen Sozialbetreuer, wie man das damals nannte. Zwei Jahre lang habe ich nichts gehört, dann hat mir ein Freund und späterer Kollege erzählt, dass in Ludwigsburg eine Stelle bei der Awo frei sei. Er hat mir geraten: Steig sofort ins Auto, fahr zur Zentrale und stell dich direkt vor. Also bin ich spontan nach Bonn gefahren. Der Chef dort hat gesagt: Typisch Türke, der erscheint halt einfach ohne Termin. Aber eingestellt hat er mich doch. So wurde ich, zunächst in Ludwigsburg, später in Stuttgart, Sozialberater für Menschen aus der Türkei. Heute arbeite ich bei der Awo Stuttgart in enger Kooperation mit dem Jugendamt in der Beratung von Migrantenfamilien in Krisensituationen.

Anfangs haben Sie sich mit der fremden Kultur in Deutschland schwergetan, heute wird Ihre Herkunft zum Vorteil für Sie, denn Sie arbeiten auch als interkultureller Streitschlichter. Was ist das?

In vielen Bereichen in der Stadt gab es immer wieder Fälle von Streitigkeiten, bei denen zumindest eine Partei einen Migrationshintergrund hatte. Mit der Stadt Stuttgart und anderen Organisationen haben wir daher vor zehn Jahren eine spezielle Ausbildung in interkultureller Mediation gemacht. Auch die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft setzte damals eigene Mediatoren zur Vermittlung bei Streitigkeiten in Mietshäusern ein. Die haben schnell gemerkt, dass sie Hilfe brauchen, wenn der Ärger damit zusammenhängt, dass unterschiedliche Nationalitäten oder Kulturkreise aufeinandertreffen. So wurde eine Zusammenarbeit vereinbart. Seit 2001 vermittle ich sieben- bis achtmal im Jahr bei größeren Streitigkeiten. In den meisten Gesprächen übernehme ich zwei Aufgaben: die des Übersetzers und Vermittlers. Anfangs haben wir Leute aus der jeweiligen Familie dolmetschen lassen, das hat aber nicht funktioniert. Die haben nicht übersetzt, sondern die Rolle des Anwalts übernommen.

Um was geht es bei den Streitigkeiten?

Um Lärm, gegenseitige Beschimpfungen, Anzeigen oder Schuhe.

Um Schuhe?

Die sind ein Dauerärgernis. Türkische Hausbewohner lassen sie aus hygienischen oder religiösen Gründen gerne im Hausflur, was dann Nachbarn oder Hausverwalter ärgert. Der Anblick ist ja auch nicht schön, denn nicht jeder ehemals weiße Turnschuh hat seine Farbe behalten. Zudem kann man stolpern. Da kann ich beide Seiten nachvollziehen. Oft sind solche Missverständnisse der Ursprung von Problemen.

Entzündet sich der Ärger tatsächlich an solchen Kleinigkeiten?

Aber ja. Einmal hatte ich einen ganz kuriosen Fall. Da wollte eine türkische Hausbewohnerin den Stromableser partout nicht in die Wohnung lassen, weil der sich geweigert hat, seine Schuhe auszuziehen. Das ging ein paarmal so, bis der Stromanbieter die Familie sogar verklagt hat. Die Lösung war simpel: Ich habe vorgeschlagen, dass der Mitarbeiter sich Plastiküberschuhe, wie sie etwa in Krankenhäusern verwendet werden, überstreift. Inzwischen gibt es Kollegen von ihm, die solche Plastikteile immer dabeihaben, wenn sie unterwegs sind.

Was tun Sie sonst, um zu schlichten?

Wir suchen erst Einzelgespräche mit den Beteiligten, sonst bekommt man die nicht an einen Tisch. Oft reichen simple Dinge. Bei meinem allerersten Fall habe ich die Streithähne gefragt, ob sie schon einmal dran gedacht haben, bei schönem Wetter gemeinsam draußen zu sitzen, Tee zu trinken und zu schwätzen. Das hat geklappt.

Sollten die Vorurteile unter den verschiedenen Nationen in Deutschland mit der Zeit nicht weniger werden?

Sie nehmen nicht zu, aber die alten Vorurteile halten sich auf allen Seiten hartnäckig. Die abzubauen ist sehr schwierig. Was allerdings früher häufiger war, sind gegenseitige Beschimpfungen mit Begriffen wie Knoblauchfresser, Kameltreiber oder Nazi.

Beruflich haben Sie ständig mit schwierigen Fällen und Streitereien zu tun. Das reicht Ihnen aber offenbar nicht. Wenn man die Wimpel an Ihrer Bürowand betrachtet, ist das Ehrenamt bei der SWSG wohl nicht das einzige, in dem Ihre Vermittlungskünste gefragt sind.

Das stimmt. Ich bin seit 26 Jahren Kampfrichter beim Schwimmen. Meine Söhne haben das Schwimmen sogar als Leistungssport betrieben. Als Schiedsrichter muss ich dort alle Entscheidungen während eines Wettkampfs treffen. Das hat mir später bei den Schlichtungen viel geholfen.

Sie engagieren sich auch im Gerichtssaal. Wie viele Stunden hat eigentlich Ihr Tag?

Ich bin Schöffe am Jugendgericht. Die Zeit dafür stehle ich mir.

Sie als Sozialarbeiter fällen bestimmt nur milde Urteile?

Das kommt ganz darauf an, was der jeweilige Jugendliche getan hat. Wenn er was mit Vergewaltigung oder Drogen zu tun hat, bin ich ziemlich hart. Drogen sind für mich Massenmord auf Raten.

Eine letzte Frage: Sie selbst wohnen bei all den Streitigkeiten, die Sie schlichten müssen, doch bestimmt in einem Einfamilienhaus?

Ganz im Gegenteil. Wir wohnen in einem Hochhaus mit 40 Familien. Da musste ich bis jetzt zum Glück noch nie schlichten.