„Ja, auch ich bin Charlie“: Der Schriftsteller Michel Houellebecq Foto: dpa

Der Roman „Unterwerfung“, der an diesem Freitag auf Deutsch erscheint, gilt als Skandal. Weil Michel Houellebecq darin von einem Frankreich erzählt, das von einem Muslim regiert wird. Und aus aktuellem Anlass.

Stuttgart - „Rein äußerlich hatte sich an der Uni nichts verändert, mit der Ausnahme eines Sterns und einer Sichel aus vergoldetem Metall, die neben der großen Aufschrift ‚Université Sorbonne Nouvelle – Paris III‘ gleich über dem Haupteingang angebracht worden war.“ Es ist der Sommer des Jahres 2022. Die Bruderschaft der Muslime stellt Frankreichs neue Regierung, und die Petrodollar der Saudis verleihen der altehrwürdigen Universität wieder neuen Glanz. In den Sälen ist man umgeben von Bildern, die Pilger zeigen, die die Kaaba umrunden, Poster mit kalligrafischen Koranversen, die Sekretärinnen sind verschleiert, und bei Abendempfängen bleiben die Männer, auf die – je nach hierarischer Position – zu Hause zwei bis drei Frauen warten, unter sich.

Frankreich hat gerade aufrührerische Zeiten hinter sich, einen Bürgerkrieg, in dem auch der Literaturwissenschaftler François zum Herumirrenden geworden ist. Seit die Muslime an der Macht sind, scheint Ruhe eingekehrt. Es gibt weniger Arbeitslose – weil Frauen mehr und mehr aus dem Berufsleben gedrängt werden. Die Kriminalitätsrate sinkt. Und das Bildungssystem wird – zumindest an muslimischen Schulen – verbessert: „In Sachen Schulbildung war die Großzügigkeit der Erdöl-Monarchien seit jeher grenzenlos.“ Alle sind glücklich. Nur der Front National nicht. Oder Gruppierungen wie der Bund der salafistischen Studenten, die „lautstark den Fortbestand unmoralischer Verhaltensweisen anprangerten und die effektive Anwendung der Scharia forderten“.

François, ein Experte für das Werk des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans (1848–1907) hat verpasst, sich der neuen Weltordnung anzupassen, nicht etwa aus moralischen Gründen, sondern weil er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Doch da Frankreich sich nun nach und nach in einen islamischen Gottesstaat verwandelt, muss er, um wieder an der Uni unterrichten zu können, Muslim werden.

Das ist vordergründig die Geschichte, die Michel Houellebecq in „Unterwerfung“ erzählt. Am 7. Januar, als das Buch in Frankreich erschien, zierte dieser so streitbare Schriftsteller als Karikatur das Cover der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Der Zeichner Renald Luzier hatte ihm die Mütze eines Weissagers aus dem Morgenland aufgesetzt, der zahnlos und mit roten Augen verkündet: „Im Jahr 2022 werde ich Ramadan feiern!“

Für den Innenteil des Hefts hatte Bernhard Maris, ein Freund Houellebecqs, eine Lobeshymne auf „Unterwerfung“ verfasst. Es sollte sein letzter Text werden. Der Roman und das Heft kamen an jenem Tag heraus, an dem zwei Terroristen die „Charlie Hebdo“-Redaktion überfielen. Frankreichs Premierminister Manuel Valls war sich daraufhin nicht zu blöd, Houellebecq indirekt eine Mitschuld zu unterstellen: „Frankreich, das ist nicht die Unterwerfung, Frankreich ist nicht Houellebecq.“ Und Houellebecq blieb nichts anderes übrig, als in einem Fernsehinterview zu bekennen: „Ja, auch ich bin Charlie.“

Houellebecq ist zwar ein radikaler Schriftsteller, einer, der provoziert, der drastisch formuliert und der den Islam schon einmal als „die wirklich dümmste aller Religionen“ bezeichnet hat. „Unterwerfung“ ist trotzdem kein in einen utopischen Roman verpacktes Anti-Islam-Pamphlet. Das wäre ein großes Missverständnis. „Unterwerfung“ ist keine Kampfschrift, die Pegida-Anhängern neue Munition gibt, sondern ein klug gebauter Roman, der dem sogenannten Abendland einen Spiegel vorhält, indem er es mit einer Art islamischer Kolonialisierung konfrontiert.

Houellebecq spielt virtuos mit westlichen Ängsten, feiert den Untergang des Abendlandes („ohne das Christentum wären die europäischen Nationen nichts mehr als ein Körper ohne Seele – Zombies“), erzählt nicht etwa von einer islamischen Machtergreifung, sondern davon, wie die liberalen und gemäßigten politischen Kräfte in ihrer eigenen Hilflosigkeit die Macht an den Moslem Mohammed Ben Abbes abgeben. Doch auch das ist nicht die eigentliche Erzählung Houellebecqs. Denn letztlich ist „Unterwerfung“ ein Psychogram eines Mannes, der aus der Zeit gefallen ist.

Sein Ich-Erzähler François ist mehr als nur ein Zeitzeuge, der den politischen Machtwechsel im Mai 2022 aus nächster Nähe erlebt. François, wie Houellebecq Misanthrop und Nihilist, ist ein selbstgefälliger Sonderling, von sexuellen Obsessionen getrieben und kränkelnd („Mein Körper, der keine Quelle der Lust mehr sein konnte, blieb eine zuverlässige Quelle des Leidens“).

Jedes Semester nimmt er sich eine neue Studentin als Geliebte. Und angesichts der veränderten Verhältnisse ist François’ größte Sorge, dass der Islam seiner Libido im Weg stehen könnte: „Als ich die Place d’Italie erreichte, überwältigte mich plötzlich die Vorstellung, dass alles verschwinden könnte. Die kleine Schwarze mit den Locken und dem knackigen Arsch in den engen Jeans, die auf den 21er-Bus wartete, die würde sicher verschwinden – verschwinden oder zumindest einer ernst zu nehmenden Resozialisierung unterzogen werden.“

In diesen Zeiten des Umbruchs sucht François entweder bei marokkanischen Prostituierten oder bei seinen Huysmans-Studien Zuflucht. Und die eigentliche Kunst in „Unterwerfung“ besteht darin, wie Houellebecq seinen Protagonisten in der Biografie und den Werken Joris-Karl Huysmans’ spiegelt, wie er anhand einer verkorksten Intellektuellenbiografie letztlich genau das seziert, was gerne als abendländische Kultur gefeiert wird.

Huysmans, der seit 1866 als Beamter des mittleren Dienstes im Ministerium für Inneres und religiöse Angelegenheiten arbeitete, bekannte sich mit 44 zum Katholizismus, François will zum Islam konvertieren. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Selbstsucht, Bequemlichkeit und wegen der zu erwartenden Verlockungen: „Ich hätte alle Zeit der Welt, um meine Fußnoten ordentlich zu bearbeiten, und mir stünde jetzt ein supercooler Lebensabschnitt bevor.“