Die Terrormiliz Islamischer Staat hat in Palmyra die totale Verwüstung hinterlassen. Foto: dpa

Der Berliner Archäologe Lutz Martin plädiert für einen behutsamen Wiederaufbau des syrischen Weltkulturerbes Palmyras. Jede Hilfe sei willkommen – auch die Russlands.

Stuttgart - Herr Martin, der Islamische Staat hat im syrischen Palmyra gewütet wie die Vandalen. Wie viel vom Weltkulturerbe erhalten geblieben ist, wird sich erst n den nächsten Wochen zeigen. Waren Sie selbst schon in Palmyra?
Ja, ich war schon öfter dort. Palmyra, dieses Weltkulturerbe aus den ersten zwei Jahrhunderten n. Chr., ist nicht so meine Zeit, da ich mehr in den älteren Epochen unterwegs bin – viertes bis erstes Jahrtausend vor Christus, Sumerer, Assyrer und Aramäer.
Wie waren Ihre Eindrücke?
Es waren großartige Erlebnisse, die bedeutendste Ruinenstätte Syriens vor sich liegen zu sehen. Als wir von den Zerstörungen durch den Islamischen Staat (IS) hörten, waren wir alle schockiert und fühlten uns ohnmächtig.
Ist das Palmyra vor 2015 überhaupt original zu nennen?
Seit den 1990er Jahren hat sich Palmyra zu einem wichtigen Tourismuszentrum in Syrien entwickelt. Die Antikenverwaltung hat sehr viel rekonstruiert. Die Säulenkolonnade etwa ist zum großen Teil wiederaufgebaut worden. Man hat sie so nicht vorgefunden. Auch von der Löwenskulptur vor dem Museum in Palmyra gab es nur Bruchstücke, die Ende der 1970er Jahre restauriert wurden.
Zerstörungen kulturellen Erbes durch Kriege hat es schon immer gegeben. Wie sinnvoll ist es ein Wiederaufbau?
Eine schwierige Frage, die vor allem vom Ausgangsmaterial abhängt, das noch zur Verfügung steht. Zerstörtes vollständig wiederaufzubauen, halte ich nicht für sinnvoll. Auch in Palmyra wurde nicht der Zustand von vor 2000 Jahren komplett wieder hergestellt. Ich plädiere für eine zurückhaltende Rekonstruktion unter Verwendung von Originalteilen.
Könnten Sie ein Beispiel nennen.
Das Ischtar-Tor – eines der Stadttore von Babylon – sowie die Prozessionsstraße wurden unter Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr.) in Babylon errichtet. Die Rekonstruktion hat das Vorderasiatische Museum in Berlin weltberühmt gemacht. 80 Prozent des Tores ist nicht original, sondern stammt aus den 1930er Jahren. Hätte man das Tor nicht rekonstruiert, sondern nur einzelne Tierfriese oder glasierte Ziegelbrocken ausgestellt, hätte das Vorderasiatische Museum nie die Weltgeltung erlangt, die es heute hat. Es sind diese Rekonstruktionen, die Menschen in die Museen locken.
Solche Rekonstruktion sind aber nicht historisch-original, sondern historistisch nachempfunden. Wo sehen Sie die Grenzen?
Aus Sicht des Archäologen ist es so, dass man auf der Grundlage der Quellen rekonstruieren kann. Auch für den Laien muss dies erkennbar sein. Alt und Neu müssen klar zu unterscheiden und das Bauwerk oder die archäologischen Artefakte müssen deutlich zu erkennen sein. Die Grenzen liegen dort, wenn nichts Originales mehr vorhanden ist und man nur Neues verbaut.
Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten der digitalen Archäologie?
Heute haben wir mediale Möglichkeiten wie 3D-Rekonstruktionen. Bauteile können durch 3D-Drucker nachgeformt werden. Am Berliner Schloss, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und dessen ausgebrannte Reste man in der DDR 1950 sprengte, macht man es so. Auch in Palmyra wird man um eine Rekonstruktion von Bauwerken nicht herumkommen, wenn man die Stätte wieder zu einer Touristenattraktion machen will.
Die syrische Altertumsverwaltung hat dieses Konzept in der Vergangenheit erfolgreich verfolgt: Soviel Altes wie möglich, so wenig Neues wie möglich.
In Syrien ist man in der Tat einen guten Weg gegangen und hat mit dem nötigen Augenmaß rekonstruiert. Was man im Irak unter Saddam Hussein in Babylon gemacht hat, nämlich ganz neue Gebäude aufzubauen, von denen es überhaupt kein Originalmaterial mehr gab, ist grenzwertig. So etwas würde ich nicht unterstützen.
Ein archäologisches Disney-World wie Neuschwanstein soll Palmyra nicht werden?
Auf gar keinen Fall.
Palmyra ist durch die Verwüstungen zu einem Symbol für die Zukunft des syrischen Volkes geworden. Würden Sie dem zustimmen?
Ganz sicher. Man wird die antiken Stätten wiederaufbauen. Es ist ja auch nicht so, dass alles zerstört ist. Das Theater beispielsweise ist noch weitgehend intakt, genauso wie die Säulenkolonnade, abgesehen vom Triumphbogen. Bei der Hauptattraktion, dem völlig zerstörten Bel-Tempel, bin ich allerdings skeptisch, ob eine Rekonstruktion möglich sein wird.
Russland hat sich bereits angeboten, beim Wiederaufbau zu helfen. Stört es Sie, dass auch politische Interessen mit im Spiel sind?
Ich würde die politischen Interessen nicht in den Vordergrund stellen. Es muss geholfen werden. Länder wie Russland und Organisationen wie die Unesco, alle die Kompetenzen bei der Restaurieren haben, sollten sich einbringen. Palmyra ist Weltkulturerbe. Für seine Bewahrung ist die ganze Menschheit verantwortlich, nicht Syrien allein.
Der Wiederaufbau wird sehr viel Geld kosten. Welche Hilfe hat jetzt Vorrang: die kulturelle oder humanitäre?
Man muss Prioritären setzen. Die eindeutige Priorität hat der Wiederaufbau des Landes. Die Menschen stehen im Vordergrund. Ihre Not muss gelindert werden. Zu ihnen muss zuerst Geld fließen. Aber die Kultur sollte man nicht ganz vergessen. Sie trägt zur Identitätsfindung bei und ist für Syrien sehr wichtig – für die Herausbildung eines gesellschaftlichen und kulturellen Bewusstseins. Palmyra war eine touristische Haupteinnahmequelle Syriens und wird es hoffentlich auch in Zukunft wieder sein.
Die Buddha-Statuen im afghanischen Bamiyan wurden nicht wiederaufgebaut, die geschleiften Mausoleen in Timbuktu in Mali dagegen schon. Gibt es einen Königsweg?
Beide Vorgehensweise sind legitim. Man kann das nicht generell, sondern nur von Fall zu Fall entscheiden. Ich würde es immer von der Ausgangssituation abhängig machen. Ist so viel da, dass ein Wiederaufbau möglich ist oder wird es nur ein Neubau?
Wie beim Berliner Stadtschloss. Ein Neubau auf historischer Grundlage.
Natürlich hat dieser Bau nichts mehr mit dem historischen Schloss zu tun. Aber wir haben uns bewusst für diesen Weg entschieden, um Berlin wieder eine Mitte zu geben. Ich würde es verstehen, wenn man in Palmyra ähnlich verfährt und bestimmte Bauten für den künftigen Touristen weitgehend rekonstruiert.
Ein anderes Beispiel – die Dresdener Frauenkirche.
Auch die Frauenkirche ist ein Symbol. Am Anfang war ich skeptisch, aber jetzt kann ich mit dem Neubau leben. Es ist immer eine Fall-zu-Fall-Entscheidung. Wenn es wie in Palmyra um symbolträchtige Bauwerke geht, wird man um eine Rekonstruktion nicht herum kommen.

Zur Person: Lutz Martin

1954 im erzgebirgischen Olbernhau

1980-1985 Nach der Ausbildung zum Geologiefacharbeiter Studium der Vorderasiatischen Archäologie und Altorientalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bereich Alter Orient des ehemaligen Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie in Berlin

1993 Promotion

Seit 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Vorderasiatischen Museum für den Sammlungsbereich Syrien/ Palästina und für die archäologischen Feldforschungen des Museums zuständig

Seit 2006 Projektleiter für die gemeinsamen deutsch-syrischen Ausgrabungen am Tell Halaf, einem prähistorischen Siedlungshügel im Nordosten Syrien

Seit 2014 stellvertretender Direktor des Vorderasiatischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin