Hoch droben neben einer einsamen Fichte blickt der neue Hirsch über das Wehratal. Foto: Johannes Behringer

Der Hirsch im Höllental hat Konkurrenz bekommen. Witzbolde haben im Wehratal heimlich einen Artgenossen aufgestellt. Jetzt wird gestritten: Ist die Kopie möglicherweise echter als das Original?

Wehr - Seit 109 Jahren ist er auf dem Sprung, und auf diese Weise ist der Hirsch im Höllental zum meistfotografierten Rotwild Europas geworden. Das behauptet zumindest Karl-Ludwig Gerecke, und der muss es wissen. Schließlich ist er als Chef der Forstbehörde in Freiburg der oberste Wildhüter im Hochschwarzwald. Da pflegt man ein besonderes Verhältnis auch zu Bronzetieren. Im Jahr 2010 habe der Hirsch ihm sogar ein Interview gewährt, sagt der promovierte Forstwissenschaftler und zieht einen Text hervor, den er anlässlich der damaligen Rotwildtage verfasst hat. Er träume von einem Tunnel, soll der Hirsch ihm da anvertraut haben. Die 25 000 Fahrzeuge, die täglich auf der Bundesstraße 31 auf ihrem Weg von und nach Freiburg unter ihm vorbeiflössen, nervten schon gewaltig. Und vermutlich seien die auch schuld daran, dass in all den Jahrzehnten keine Hirschkuh bei ihm vorbeigeschaut habe.

Daran hat sich seither nichts geändert. Nach wie vor thront der stattliche Hirsch als Single auf seinem Felsen unweit des Buchenbacher Weilers Falkensteig. Doch nun kommt es richtig dicke: Seit Kurzem röhrt noch ein zweiter Artgenosse durch den Schwarzwald. Eigentlich steht er weit weg, knapp 50 Kilometer Luftlinie und mehrere Täler weiter südlich. Doch natürlich kann es nur einen Platzhirsch geben.

Es war am Osterdienstag, da trauten die Waldarbeiter, die auf der kurvenreichen Landesstraße 148 das enge Wehratal vom Hotzenwald hinunter in Richtung Hochrhein fuhren, ihren Augen nicht. Auf einer etwa 30 Meter hohen Felsplatte ziemlich genau auf halber Strecke zwischen Todtmoos und Wehr stand neben einer sonst einsam emporragenden Fichte eine lebensgroße Hirschfigur. Wie das gute Stück dort oben hingekommen ist und wer es aufgestellt hat, ist seither ein Rätsel. Waren es die Pfadfinder aus Wehr, wie es gleich hieß? Wir wissen von nichts, kam das prompte Dementi. Auch die freiwillige Feuerwehr wies jeden Verdacht von sich. Allerdings freute sich der Wehrer Bürgermeister Michael Thater als oberster Dienstherr der Wehrmänner verdächtig lautstark über den Coup. Das sei „eine der genialsten Ideen seit dem Stellen der Kreuze auf den Gipfeln“, erklärte er, um dann treuherzig hinzuzufügen: „Es ärgert mich, dass ich da nicht selber drauf gekommen bin.“

Die Heimat von Uwe Wassmer und Anne-Sophie Mutter

Der Bayern-Schreck Uwe Wassmer, der als Spieler des SC Freiburg einmal drei Tore gegen die Münchner schoss, stammt aus Wehr, ebenso die Stargeigerin Anne-Sophie Mutter. Doch der Ruhm der beiden hat nicht abgefärbt. Die 13 000-Einwohner-Stadt am westlichen Zipfel des Kreises Waldshut liegt abseits der Touristenströme. Eine kleine Attraktion täte da gut. Und zweifelsohne verfügt eine Feuerwehr über die notwendige Ausrüstung, um einen etwa 30 Kilogramm schweren Plastik-Zwölfender auf den Felsen zu hieven. Der Aufstieg sei nämlich anspruchsvoll, sagt der zuständige Revierförster Johannes Behringer aus Herrischried: „Wer da hoch will, braucht eine Kletterausrüstung, sonst ist es lebensgefährlich.“ Der drahtige Mittfünfziger ist alpin bewandert und hat es selbst ausprobiert. Oben auf der Felsplatte stellte er Erstaunliches fest: Vermutlich hätten die Unbekannten einen Flaschenzug benutzt, und sie hätten den Hirsch fest im Felsboden verschraubt und mit ummantelten Stahlseilen gesichert. „Da waren Profis am Werk“, sagt Behringer.

Übrigens würde ein lebender Hirsch dort niemals hinaufkommen. „Das schaffen nur Gämsen.“ Die drängten neuerdings immer wieder aus St. Blasien herüber. „Rotwild habe ich hier aber noch nie gesehen.“ Andererseits, das müsse man schon sagen: Gut mache sich der Hirsch dort oben schon, räumt Behringer ein.

Die Forstbehörde in Waldshut hatte zunächst freilich eine andere Sicht auf die Dinge. Ob nun Pfadfinder, Feuerwehr oder der Osterhase den Hirsch aufgestellt hätten, sei egal. Das Plastiktier müsse weg, lautete der kompromisslose Bescheid aus dem Landratsamt. „Die Stelle befindet sich in einem Landschaftsschutzgebiet mit Fauna-Flora-Habitat-Siegel“, erklärt der Behördenchef Helge von Gilsa. Zudem handele es sich um ein geschütztes Felsbiotop.

Argwohn im Höllental

Doch der Hirsch hat in kurzer Zeit schon viele Freunde gewonnen. Das hat von Gilsa mittlerweile erfahren. Die örtliche Kommunalpolitik lief Sturm, der Wehrer Bürgermeister Thater intervenierte beim Landrat, und zahlreiche Leserbriefschreiber setzten sich dafür ein, den Gipfelhirsch unter Schutz zu stellen. Die Behörde solle nicht übermotiviert sein und den Fall lieber mit badischer Gelassenheit sehen, wurde von Gilsa geraten. Bei solchen Argumenten muss ein badischer Beamter kapitulieren. „Wenn wir den Hirsch wieder herunterholen, schädigen wir das Ökosystem ja noch einmal“, sagt von Gilsa und sprach – so würde man das heute wohl nennen – eine Duldung aus.

Im Höllental wird der Konkurrent derweil mit Argwohn beobachtet. Dabei ist es nicht so, dass man mit dem eigenen Hirsch immer gut umgegangen wäre. Als er 2010 anlässlich einer mehrwöchigen Straßensperrung mit einem Autokran von seinem Fels heruntergeholt wurde, war ein Bein angesägt. 35 Einschusslöcher, die aus der unmittelbaren Nachkriegszeit stammten, mussten gestopft werden. Den gesamten Körper bedeckte eine dichte Farbschicht. Der zuständige Revierförster machte sich liebevoll an die Restaurierung.

Schon ein Jahr später war der Hirsch wieder ein bunter Vogel: Witzbolde verpassten ihm Flügel. Zum Start der damaligen Landesregierung war er dann grün-rot bemalt. Inzwischen trägt er Weiß. „Normalerweise kommt als Nächstes die Zebrabemalung“, sagt Hirsch-Intimus Gerecke gelangweilt. Man kann sich ausrechnen, dass es dann auch zu Grün-Schwarz nicht mehr weit ist.

Der Pferdefuß an der Geschichte mit dem Hirsch

Dennoch würde Harald Reinhard, der Bürgermeister von Buchenbach, auf dessen Gemarkung das Original beheimatet ist, sein Amt nicht ernst nehmen, wenn er um sein Alleinstellungsmerkmal nicht kämpfen würde. Zu seiner Gemeinde gehören so schöne Ortsnamen wie Pfaffendobel und Himmelreich. Doch „der Hirsch ist ein touristischer Anziehungspunkt“, sagt er. Natürlich könne man sich heutzutage in jeden Garten so ein Tier stellen, sagt Reinhard und verweist aufs Internet. Dort gibt es Kunststoffhirsche wie denjenigen im Wehratal für 500 Euro aufwärts. Doch der wahre Hirsch, das sei klar, gehöre zum Hirschsprung, „das hat historische Bedeutung“.

Und dann erzählt er die Sage von dem flinken Zwölfender, der sich einst vor den Nachstellungen eines Falkensteiger Ritters mit einem beherzten Sprung über die Schlucht in Sicherheit gebracht haben soll. Aber war es wirklich an eben jener Stelle, an der im Jahre 1856 die Gemeinde Falkensteig anlässlich der Vermählung des badischen Großherzogs Friedrich mit seiner Luise von Preußen erstmals eine Hirschskulptur, damals noch in Holz, aufstellte? Der Wehrer Schultes Thater hat da leise Zweifel. „Vielleicht war es ja auch bei uns.“ Schließlich, und das belegen die einschlägigen Wanderkarten, gibt es auch im Wehratal einen kapitalen Hirschsprungfelsen.

Der nächste Schritt

Bisher kennen ihn bestenfalls die Einheimischen. Doch das soll sich nun ändern. Der Satz über die Schlucht, findet Thater, sei hier jedenfalls viel glaubwürdiger zu verorten als im Höllental, wo zehn Meter zu überwinden sind. Das war tatsächlich immer der Pferdefuß an der Geschichte mit dem Hirsch. Mit genügend Anlauf sei die Distanz für einen ausgewachsenen Bullen sehr wohl zu überwinden, lautet die Theorie, die im Höllental verbreitet wird. Eine andere vertritt Thater: „Da ist im Leben nie ein Hirsch drübergesprungen.“ Aber vielleicht ja im Wehratal: Da habe die lichte Weite bis zu einem Felssturz im Jahr 2002 nur drei Meter betragen. Natürlich wolle man dem Höllental nichts streitig machen. Doch „der echte Hirschsprung ist mit Sicherheit bei uns“.

Thaters nächster Schritt ist daher schon vorgezeichnet. „Wir brauchen etwas Witterungsbeständiges“, sagt der Bürgermeister. Bei der örtlichen Volksbank hat er ein Crowdfunding angeregt, beim Landratsamt wirbt er dafür, den Kunststoffhirsch durch eine Bronzeskulptur ersetzen zu dürfen. Schließlich habe man auch im Höllental mit Provisorien angefangen, macht er sich Mut. Vor 1904 schmückten zunächst drei Holzmodelle den Fels, bevor sie nacheinander vermoderten.

Doch der offizielle Weg dürfte schwierig werden. „Man braucht eine Genehmigung, aber so etwas ist nicht genehmigungsfähig“, sagt der Forstbehördenchef von Gilsa. Also muss wohl wieder eine Geheimmission gestartet werden. Wenn Pfadfinder und Feuerwehr kneifen, wird sich bestimmt ein Stammtisch finden. Im Hotzenwald, wo die Menschen Sinn und Zeit für Verrücktes haben, dauert so etwas nach aller Erfahrung nicht lange. Derweil dürfen sich die heimlichen Aufsteller des Kunststoffhirschs schon als Helden fühlen. „Irgendwann wird bestimmt herauskommen, wer es war“, prophezeit der Förster Behringer. Und dann kann Thater seine Ankündigung wahr machen: „Wer den Hirsch dort hingesetzt hat, verdient die Ehrenbürgerwürde.“ So wie Anne-Sophie Mutter.