Feiert am 27. November seinen 80. Geburtstag: Helmut Lachenmann Foto: Astrid Karger

An diesem Freitag und Samstag führt die „Attacca“-Reihe des SWR das Festival „Lachenmann-Perspektiven“ mit drei Konzerten im Theaterhaus fort. Ein E-Mail-Interview mit dem Komponisten über Provokation, Helge Schneider und über das Schöne, Wahre und Neue in der Musik.

Stuttgart. – - Herr Lachenmann, was ist Musik?
Es geht mir ähnlich wie dem Kirchenvater Augustinus, wenn er über den Begriff Zeit nachdenkt: Wenn ich’s nicht sage, weiß ich es. Wenn ich es sagen soll, weiß ich es nicht mehr. Warum soll ich die jedem vertraute Erfahrung „Musik“ ins Gefängnis einer verbalen Definition zwängen? Wir alle leben damit.
Was ist Neue Musik?
Die eben genannte Erfahrung, wo sie unseren Horizont öffnet. Wachsam erlebt, ist auch eine Haydn-Symphonie „Neue Musik“, denn wir, die wir täglich weiter atmen, entdecken sie ständig neu, so wie ich meine Freunde, meine Kinder, mich selbst, immer wieder neu entdecke. Komponisten benutzen diesen Begriff nicht, wenn sie von ihren klingenden Visionen erfüllt sind.
Gibt es für die Neue Musik heute noch Neues zu entdecken? Und wenn ja: wo?
Sicher, denn es geht (und ging) ja nie um die Erschließung weißer Flecken auf dem Globus der Klänge, sondern um neue Zusammenhänge. Der C-Dur Dreiklang in Mozarts Jupitersymphonie klingt völlig anders als in Wagners „Meistersingern“, und noch einmal anders in Alban Bergs „Wozzeck“. Und die hartnäckig an meine Musik geknüpften „Geräusche“ sind überhaupt nicht neu, aber werden neu geladen.
Was ist das: Komponieren?
Wenn die westlich orientierte Zivilisation ein Dorf wäre, dann wäre das, was wir „Musik“ nennen, eine Orgel auf dem Dorfplatz - ich nannte das einmal den „ästhetischen Apparat“ - und die Komponisten wären Organisten, die sich an diese Orgel setzen und darauf spielen, jeder auf seine Art. Manche benutzen die Orgel, wie sie sie vorfinden, andere strapazieren deren Möglichkeiten, manche erweitern ihren Registervorrat. Jeder setzt daran seine Fantasie um. Und wir, die Dorfbewohner, schauen und hören zu, lieben den einen, ärgern uns über den andern, sind so oder so daran echt oder oberflächlich interessiert, freuen uns darüber oder sorgen uns darum, wie „unsre Orgel klingt“.
Was ist das Wichtigste, das Sie jungen Komponisten mitgeben wollen?
Ich gebe weiter, was mein Lehrer Luigi Nono mir schrieb: „Suche immer weiter, aber niemals suche „schlau“!“
Muss Kunst, muss Musik Widerstand leisten? Wenn ja: wogegen?
Kunst muss gar nichts, aber sollte - bzw. wird ganz von selbst - provozieren - wobei auch dieser Begriff dem Jargon unserer Spaß-Gesellschaft entzogen werden muss, wo „Provokation“ zur alltäglichen Dienstleistung des alltäglichen Unterhaltungsdeliriums gehört und wo der Schock zum Schick gehört. „Provozieren“ heißt „hervorrufen“, neue Wahrnehmungs- und ästhetische Erlebnis-Antennen mobilisieren, heißt einladen, seinen Horizont zu erweitern.
Muss ich mich schämen, wenn ich auch den philharmonischen Schönklang mag?
Klar, wie kann man nur, pfui.
Welches sind für Sie die wichtigsten Kriterien bei der Unterscheidung von guter und schlechter Musik?
Ich benutze diese Unterscheidung so wenig, wie ich von guten und schlechten Landschaften oder guten und schlechten Kreaturen rede. Es gibt Musik, die ich beim Ausräumen der Geschirrspülmaschine nebenher hören kann, ohne das mir etwas entgeht. Ich respektiere das als den offenbar unverzichtbaren Service im Alltag, aber ich brauche das nicht unbedingt. Das kann allerdings auch am Karfreitagvormittag bei einer Rundfunkübertragung der Matthäuspassion passieren. Und es gibt Musik, bei der ich mich hinsetze, der ich mich mit aller Hingabe aussetze, die mich erfüllt, beschäftigt, „provoziert“ - siehe oben - und die mein Denken und Fühlen erweitert.
Ich habe gelesen, dass Sie ein Fan von Helge Schneider sind. Wie konnte das passieren?
Tja…. Muss ich mich jetzt schämen, weil ich Helge Schneider mag? Ich mag sogar Gotthilf Fischer. Wen geht das etwas an?
Ihr Stück „Got Lost“ wurde 2008 uraufgeführt. Seither haben Sie nichts Neues zur Uraufführung freigegeben. Warum nicht?
Weil ich in der Zwischenzeit nichts beendet habe. Keine Sorge, es kommt noch was.
Sie reisen von Stadt zu Stadt, um bei den Einstudierungen Ihrer Werke dabei zu sein. Trauen Sie den Musikern nicht über den Weg? Und was passiert, wenn Sie selbst einmal nicht mehr als Betreuer Ihrer Kunst aktiv sein können?
Vielen Musikern sind die in meinen Werken geforderten Spieltechniken nicht vertraut. Es gibt immerhin inzwischen überall Ensembles, die meine Assistenz nicht mehr benötigen. Es gibt eine CD-ROM, und es gibt Filme, wo diese Spieltechniken wunderbar vermittelt werden. Meine gelegentliche Mitwirkung, zumal bei den mehr und mehr reduzierten Orchester-Probezeiten, erspart den Ausführenden Zeit und Energie und Missverständnisse. Ich dränge mich nirgends auf, aber es macht mir Spass, dabei zu sein und die ganze Skala zwischen Irritation, Neugier, Lernbereitschaft und sogar Begeisterung mitzuerleben. Und es gibt in allen Ländern genug junge Musiker, welche die an meine Musik gebundene Spielpraxis verinnerlicht haben und weitervermitteln.
Braucht N/neue Musik heute Vermittlung?
In einer Gesellschaft der kommerziell gesteuerten Verblödung und der weithin ahnungslosen kulturpolitisch Verantwortlichen muss man dem Authentischen, vulgo der Kunst vermutlich doch gelegentlich den Zugang zum Hörer freischaufeln.
Was ist Wahrheit in der Musik?
Was ist Wahrheit in der Schwäbischen Alb? Oder in den Niagara-Fällen, oder im Gesicht meiner weinenden oder glücklich lachenden Enkeltochter, oder eines Sterbenden...
Und was ist Schönheit?
Die wie auch immer sinnlich vermittelte Erinnerung des Wahrnehmenden daran, dass er eine geistfähige Kreatur ist. Das macht glücklich. Aber am besten fragen Sie auch hier den Kirchenvater Augustinus.