Es regnet und regnet und regnet in Houston und anderen Teilen von Texas. Die Hochwasserpegel drohen auf den höchsten Stand seit Beginn der Wetteraufzeichnungen zu steigen. Die Einsatzkräfte kommen nicht hinterher, die Bewohner sind oft auf sich allein gestellt. Foto: dpa

Als New Orleans im Jahr 2005 im Wirbelsturm Katrina unterging, besiegelte das auch die Präsidentschaft von George W. Bush. Sein Nachnachfolger Donald Trump schaltet sich persönlich in die Bekämpfung der Unwetterkatastrophe in Texas ein

Houston - Sylvester Turner muss sich bohrende Fragen gefallen lassen. Während Houston im Katastrophennotstand lebt, scheiden sich die Geister am Bürgermeister der Stadt. Der hat sich gegen eine frühzeitige Evakuierung entschieden, allerdings, wie er nach wie vor glaubt, aus guten Gründen.

Als sich Harvey der texanischen Golfküste näherte, riet Turner ausdrücklich davon ab, sich ins Auto zu setzen und das Weite zu suchen. Es gebe keinen Grund, sich auf der Straße in noch größere Gefahr zu begeben, während ringsum Bäume umstürzten, hatte der frühere Rechtsanwalt noch am Freitag gewarnt, kurz bevor der Hurrikan das Festland erreichte. Es folgten überraschend heftige Überschwemmungen und eilends improvisierte Rettungsaktionen, es folgte das Nervenspiel in einem Altersheim, in dem sich die ganze Dramatik bündelte. In Dickinson, einer Satellitenstadt am Rande Houstons, saßen die Bewohner der Seniorenresidenz La Vita Bella auf einmal bis zu den Hüften im Wasser. Jemand fotografierte die Szene, der Schwiegersohn der Heimbetreiberin verbreitete das Bild via Twitter. „Brauchen dringend Hilfe. Bitte weiterverbreiten“, schrieb Timothy McIntosh am Sonntag gegen 16 Uhr Ortszeit. 18 Eingeschlossene, die meisten Frauen, wurden aus höchster Not gerettet, während anderswo Tausende vergeblich versuchten, in der überlasteten Notrufzentrale Alarm zu schlagen. Oder aber vertröstet werden mussten, falls sie jemanden zu sprechen bekamen. Obwohl Privatleute mit Booten zu Hilfe kamen, konnte zunächst längst nicht jeder, der evakuiert werden wollte, in Sicherheit gebracht werden. Deshalb steht Sylvester Turner im Kreuzfeuer der Kritik.

Erinnerung an den Wirbelsturm Rita

Houston, verteidigt er sich, habe 2,3 Millionen Einwohner. Rechne man den Ballungsraum der Metropole dazu, seien es über sechs Millionen. So viele Menschen gleichzeitig aufzufordern, sich auf die Straße zu begeben, wäre falsch gewesen, sagt der Bürgermeister. „Ich denke, diese Lektion haben wir nach Rita gelernt.“

Die Erinnerung an den Wirbelsturm Rita ist ein Grund, offenbar der wichtigste, warum niemand eine Evakuierung anordnete oder auch nur empfahl. Als Rita im September 2005 auf Houston zusteuerte, riet Turners Vorgänger im Rathaus den Leuten, die Stadt zu verlassen. Kurz zuvor hatte Katrina in New Orleans die Dämme brechen lassen, weder die Behörden noch die Bürger Houstons wollten ein Risiko eingehen. Über zwei Millionen Gewarnte machten sich auf den Weg, auf den Autobahnen staute sich viele Kilometer weit der Verkehr, Unfälle häuften sich, es kam zu Schlägereien, brütende Sommerhitze führte dutzendfach zu Hitzschlägen. „Vielen von uns steckt das noch in den Knochen“, sagt Turner.

Dass Harvey derart schwere Überflutungen verursachen konnte, liegt zum einen an der Großwetterlage: Statt ins Landesinnere zu ziehen, bewegt sich der Sturm kaum vom Fleck. Seit Samstag liegt die Front über dem Küstengebiet, ohne sich nennenswert zu verschieben. Bevor sie abgezogen ist, werden nach Prognosen des Nationalen Wetterdienstes in manchen Vierteln Houstons 1,30 Meter Regen gefallen sein. Mindestens bis Donnerstag soll der Regen weitergehen.

„Du machst einen verdammt guten Job“

Andererseits sprechen Experten von einem Betonisierungseffekt, für den nun die Rechnung fällig geworden sei. Houston gehört zu den am schnellsten wachsenden Städten der USA, pro Jahr kommen etwa hunderttausend zusätzliche Bewohner hinzu. Neue Straßen werden gebaut, neue Parkplätze angelegt, die Einfamilienhaus-Monotonie typisch amerikanischer Siedlungen dringt immer weiter ins Umland vor. Wo das Wasser noch vor zwanzig Jahren versickern konnte, ist heute Beton. Fatal für eine Stadt, die wegen der vielen Flüsse und Wasserwege, die sie durchziehen, ohnehin schon notorisch überschwemmungsanfällig ist.

Für den US-Präsidenten wiederum bedeutet die verheerende Naturgewalt, dass er sich im eigenen Land erstmals in der Rolle des obersten Krisenmanagers bewähren muss. Damit verbindet sich zwangsläufig die Frage, ob Harvey so etwas wie Donald Trumps Katrina wird. Das Desaster in New Orleans markierte den Punkt, von dem an es für seinen republikanischen Vorvorgänger George W. Bush, der inkompetent und anfangs fast desinteressiert wirkte, nur noch bergab ging. Unvergessen, wie überschwänglich er den überforderten Chef der Katastrophenschutzbehörde Fema lobte, einen Juristen namens Michael Brown. „Brownie, you’re doing a heck of a job“ (Brownie, du machst einen verdammt guten Job): kein Sturm, bei dem Spötter nicht an Bushs verhängnisvollen Satz erinnern.

Schon die Vorgeschichte erklärt, auf welch dünnem Eis sich Trump nunmehr bewegt. Was ihn nicht davon abhielt, Loblieder auf Brock Long, den aktuellen Fema-Direktor, zu singen. „Sie machen einen großartigen Job – die Welt schaut zu!“, twitterte er am Samstag. Da war das wahre Ausmaß der Zerstörung allerdings nur zu erahnen.

Haben die Überschwemmungen Alligatoren ins Stadtgebiet geschwemmt?

Mindestens seit einem halben Jahrhundert hat Texas keinen so zerstörerischen Hurrican erlebt wie Harvey; manche Meteorologen sprechen vom schlimmsten Wirbelsturm in der Geschichte des Bundesstaates. Mehrere Landkreise stehen unter Notstandsrecht, die Nationalgarde, das Militär und Tausende Helfer aus Texas und anderen Bundesstaaten sind im Einsatz. Rita hatte 2001 Schäden in Höhe von fünf Milliarden Dollar angerichtet – diesmal ist ein Vielfaches zu erwarten.

Wegen der starken Überschwemmungen konnten sich die Behörden bisher noch nicht um die eigentlichen Sturmschäden kümmern – Harvey hatte mit Windböen von bis zu 200 km/h viele Gebäude zerstört und Stromleitungen zerrissen. Die Katastrophenschutzbehörde Fema sagt schon jetzt voraus, dass die Aufräumarbeiten nach Harvey mehrere Jahre dauern werden. Auch wirtschaftliche Folgen sind zu erwarten: Die Katastrophengegend ist ein wichtiges Zentrum der US-Ölindustrie. Viele Raffinerien und Häfen für Öltanker mussten wegen des Sturms und der Überschwemmungen geschlossen werden.

Ingenieure öffneten am Montag die Schleusen an zwei Wasserreservoiren bei Houston, um Dammbrüche zu vermeiden. Ein Konferenzzentrum in Houston wurde zur Notunterkunft für 5000 Menschen erklärt. Insgesamt müssen Unterkünfte für 30 000 Menschen gefunden werden. Die Behörden schätzen, dass insgesamt rund eine halbe Million Menschen auf die ein oder andere Art Hilfe brauchen werden. Medien meldeten, die Überschwemmungen hätten Alligatoren ins Stadtgebiet geschwemmt.

Albtraum nach der Rettung

Für viele endete der Albtraum auch nach der Rettung aus einem überschwemmten Haus nicht: Etliche standen ohne Geld, ohne Verbindung zu Angehörigen und ohne Informationen über Notunterkünfte buchstäblich vor dem Nichts.

Präsident Trump sagte den betroffenen Regionen in Texas alle erforderliche Hilfe zu. Er betonte auf Twitter, der Staat sei auf die Katastrophe gut vorbereitet gewesen. Der Präsident will an diesem Dienstag nach Texas reisen, das eigentliche Katastrophengebiet aber meiden, um die Rettungsaktionen nicht zu stören.