Christel Winter und ihr Mann Rolf haben vor neun Jahren die einzige Tochter verloren.
Es war ein schwerer Schicksalsschlag, als Ilka Winter vor neun Jahren mit ihrem Lebensgefährten bei einer Bergtour am Mont Blanc ihr Leben verlor. Eine tonnenschwere Eiskruste löste sich im falschen Moment. Die Lawine begrub das Paar, die Körper der Opfer wurden niemals gefunden. „Mein Mann Rolf und ich sind unmittelbar nach dem Unglück dort gewesen, dann ein Jahr danach und haben den Ort seitdem in jedem Jahr besucht“, erzählt Christel Winter. Immer noch klingt ihre Stimme frei. Wie es ist, mit einem derart wahnsinnigen Schmerz, unter dem andere vielleicht zerbrochen wären, zu leben, lässt sich nur erahnen. Aber Christel Winter hat gelernt, sich dem Verlust zu stellen.
„Auch jetzt gibt es immer noch Momente, in denen wir sehr traurig werden“, berichtet sie. Es habe sich in den neun Jahren aber auch viel verändert. „Ilka lebt ganz tief in meinem Herzen“, sagt die Mutter. Das spüre sie immer, wenn sie in den Bergen durch die Stille ihre Verbundenheit mit der Tochter spüre. „Es ist wie eine Kraftquelle.“ Es sei kein Zufall, dass das Paar jetzt in die Nähe der alten Heimat von Christel Winter übersiedle, in die Nähe von Memmingen. „Ilka hat oft gesagt: Ihr zieht zu uns ins Allgäu.“
Jetzt also sei der Zeitpunkt gekommen. „Wir sind beide um die 70 und haben uns dort eine Drei-Zimmer-Wohnung gekauft“, erzählt die Seniorin. Die Verkleinerung erspare ihr viel Arbeit, um das Haus in Schuss zu halten. Zudem lebten viele Verwandte und Freunde in der Memminger Gegend. Auf Materielles verzichten zu können, sei ihr vorher nicht so möglich gewesen – jetzt habe sie die Sicherheit, dass Ilka es ihr nicht übelnehme, wenn sie etwa ihre Lieblingsjacke weggebe. „Ich glaube einfach, dass sie sich von mir wünscht, dass sie tief in meiner Seele wohnt und dass ich nicht so an den Sachen hänge.“
Ein Familienleben mit einer toten Tochter – das klingt nach einer seelischen Dauerwunde. Und es ist auch eine. Das haben Christel und Rolf Winter in den neun Jahren ständig festgestellt. „Die Kinder unserer Freunde wurden älter, haben geheiratet und Kinder bekommen – es hat uns traurig gemacht, dass wir keine Großeltern werden konnten“, sagt Christel Winter. Erst im Laufe der Zeit konnte das Paar wieder Licht sehen. „Ich habe mich jahrelang intensiv mit dem Thema Tod auseinandergesetzt, habe Kurse in Stuttgart bei der Hospiz besucht und viele, viele Bücher zu dem Thema gelesen.“ Sterbende habe sie aber nicht begleiten können: „Da hat mein Körper sich geweigert, er sendete das Signal, ich sollte mich dem Leben zuwenden.“
Freude entwickelte Christel Winter dann daran, sich bei einer türkischen Familie als „Ersatz-Oma“ einspannen zu lassen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe“, blickt die Großbottwarerin zurück. Doch genau das habe sie gebraucht. „Ich merkte, es ist so schön mit den fremden Kindern.“ Auch insgesamt habe ihr der Schmerz nicht mehr zusetzen können. „Ich kann wirklich sagen, es tut nicht mehr weh.“ Jetzt gehe sie offen und gespannt auf die neue Zeit im Allgäu zu. „Vielleicht werde ich mich dort wieder als Ersatz-Oma betätigen.“