Achim Brauneisen hält es für notwendig, die Justiz an manchen Stellen neu aufzustellen. Er kritisiert eine Folge der neuen Canabis-Gesetzgebung, die kaum einer kennt.
Man muss auch die Arbeit der Staatsanwaltschaften krisenfest machen. Das externe Weisungsrecht des Justizministers müsste eingeschränkt werden, sagt Achim Brauneisen. Der Generalstaatsanwalt geht in den Ruhestand – und kritisiert eine Folge der neuen Canabis-Gesetzgebung, die kaum einer kennt.
Herr Brauneisen, Sie waren 37 Jahre im Justizdienst tätig, davon mehr als 30 Jahre als Staatsanwalt. Was hat sich in den drei Jahrzehnten verändert?
Fast alles. Vor allem die Art, wie wir arbeiten. Die Fälle sind umfangreicher geworden, die Staatsanwaltschaften aber auch leistungsfähiger. Ohne die Digitalisierung könnten wir die Berge von Akten nicht bewältigen. Zu Beginn meiner Arbeit hat man noch auf Schellackplatten diktiert, ich war dann einer der ersten, die einen Computer bekommen haben. Jetzt versuchen wir Roboter-Software zu entwickeln, die einfache Arbeitsgänge ausführt um uns zu entlasten.
Hat auch die Anzahl der Fälle zugenommen?
Ja und zwar deutlich. Von 2013 bis 2023 sind die Verfahren gegen bekannte Beschuldigte bei den Staatsanwaltschaften im OLG-Bezirk Stuttgart um 32 Prozent gestiegen. Das Personal wächst leider nicht im gleichen Maße mit.
Die Justiz hat aber in den letzten Jahren massiv Stellen bekommen?
Leider nicht vorrangig bei den Staatsanwaltschaften. Uns fehlen im OLG-Bezirk derzeit 88 Staatsanwälte.
Das bedeutet, es bleiben viele Fälle liegen?
Jeder Fall, der nicht zügig bearbeitet wird, ist schlecht, denn es steht immer ein Mensch dahinter. Allerdings gilt auch: wenn es drauf ankommt, dann sind wir schnell. Zum Beispiel bei den Ausschreitungen rund um den Eckensee in Stuttgart vom Juni 2020. Zwei Monate später gab es die ersten Anklagen. Inzwischen sind 103 Beschuldigte verurteilt, zum Teil zu mehrjährigen Freiheits- oder Jugendstrafen, die meisten sind rechtskräftig. Das ist eine gute Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaften. Das gleiche gilt für die Schusswechseln im Stuttgarter Raum in jüngster Zeit. Da wird richtig gut agiert.
Woher kommt dieser massive Anstieg an Verfahren?
Das liegt ganz stark an gesellschaftlichen Phänomenen. Die Zahl ausländerrechtlicher Verfahren hat stark zugenommen, es gibt eine massive Zunahme der Kriminalität im Netz, von einfachen E-Bay- Betrügereien bis hin zu sehr komplexen Verfahren mit vielen Beschuldigten. Und es gibt viele Fälle der Geldwäsche, nachdem die Strafbarkeit in diesem Bereich massiv ausgeweitet wurde.
Ist das Kritik am Gesetzgeber?
Nicht bei der Geldwäsche, da muss wirklich dagegengehalten werden. Kritik gibt es, aber nicht hier.
Wo dann?
Unsere Arbeit wird massiv bürokratisiert. Das Kerngeschäft des Ermittelns rückt immer mehr in den Hintergrund durch Dokumentationspflichten, Benachrichtigungspflichten, Informationspflichten, Belehrungspflichten, Kennzeichnungspflichten, Löschungspflichten, Statistikpflichten.
Geht es konkret?
Ja, zum Beispiel anhand des neuen Cannabis-Rechts, das zum 1. April in Kraft treten soll. Unabhängig von der Diskussion darüber, ob das nun richtig ist oder nicht, hat ein Punkt in der Öffentlichkeit bisher kaum eine Rolle gespielt. Alles, was künftig nicht mehr strafbar sein soll, wird auch rückwirkend für die Vergangenheit gelten. Das heißt jeder, der vor dem 1. April verurteilt worden ist, nach dem neuen Gesetz aber nicht mehr verurteilt worden wäre, hat einen Anspruch darauf, dass er rückwirkend straffrei gestellt wird und dass seine Strafe getilgt wird. Das ist ein unvorstellbarer Aufwand.
Bekommt man auch das Geld zurück, das man als Strafe bezahlt hat?
Nein, so weit geht es dann nicht.
Sie sind als Behörde gegenüber dem Justizministerium berichtspflichtig. Wie oft kommt das vor?
Häufig. Wir hatten im vergangenen Jahr 310 500 Verfahren in unserem Bezirk, da sind viele dabei, die eine besondere Bedeutung haben, über die wir berichten. Bestimmt drei bis fünf am Tag.
Das Ministerium hat gegenüber ihnen ein Weisungsrecht. Wie oft nimmt es das wahr?
Nie. Ich habe in meiner Amtszeit keine Weisung bekommen, auch keine mittelbare. Jeder Justizminister wird sich sehr vorsehen, eine Weisung zu erteilen. Auf den Verdacht der politischen Einflussnahme reagiert die Öffentlichkeit zu Recht sensibel.
Es gibt eine Diskussion darüber, dass Institutionen wie das Verfassungsgericht vor radikalen Parteien geschützt werden sollten. Gilt das auch für Staatsanwaltschaften?
Ganz klar ja. Man muss auch die Arbeit der Staatsanwaltschaften krisenfest machen. Das externe Weisungsrecht des Justizministers müsste eingeschränkt werden. Ich will mir nicht vorstellen wie es werden könnte, wenn eine populistische Partei in die Machtposition des Justizministers kommt und rechtsstaatliche Prinzipien nicht so achtet, wie das heute der Fall ist.
Wie groß ist die Gefahr?
Aktuell halte ich den Rechtsextremismus für die größte Gefahr für unsere Demokratie. Wir haben in Baden-Württemberg bisher ordentlich an dem Punkt gearbeitet, aber wir müssen wachsam sein, und auch die Strukturen verbessern. Bisher haben Baden und Württemberg ihre Staatsanwaltschaften, die für Staatsschutz zuständig sind. Zusätzlich gibt es die Zentralstelle für Staatsschutz. Das muss man weiter zusammenfassen, und ein neue Staatsschutzzentrum bilden, das Zugriff auf alle Fälle hat, so ähnlich, wie das beim Cybercrime-Zentrum geschehen ist.
Gibt es weiteren Handlungsbedarf?
Die Einführung der elektronischen Strafakte kommt bei den Staatsanwaltschaften gut voran. Jetzt erfahre ich, dass die weitere Einführung der E-Strafakte bei der Polizei nicht finanziert ist. Das ist zwar Sache des Innenministeriums, aber für uns wichtig. Die E-Strafakte kann nur funktionieren, wenn Polizei und Staatsanwaltschaft Hand in Hand gehen. Es wäre ein Schwabenstreich, wenn die Landesregierung das nicht hinbekommen würde.
Wieviel Geld fehlt?
Genau kann ich das nicht sagen. Wir reden hier aber schon über einen mindestens zweistelligen Millionenbetrag. Die Erfahrungen beim Pilotprojekt in Ulm sind positiv, es hat absolut Sinn, das weiter zu betreiben.