DIW-Präsident Marcel Fratzscher sieht Deutschland vor riesigen Herausforderungen Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Deutschland geht es gut. Doch wir sind nicht gewappnet für die Zukunft, sagt der Ökonom Marcel Fratzscher. Er befürchtet, dass uns die „derzeitige gute Lage träge und überheblich macht“.

Herr Fratzscher, Sie sagen, Deutschland steht am Scheideweg und sollte jetzt den Grundstein für den Wohlstand zukünftiger Generationen legen. Was, wenn die Chance nicht genutzt wird?
Deutschland steht in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten vor riesigen Herausforderungen. Der demografische Wandel wird Deutschland viel härter treffen als andere und unsere Infrastruktur ist dabei zu verfallen. Wir leben heute in vielen Bereichen von unserer Substanz – beim Verkehr, bei der digitalen Infrastruktur und im Bereich Energie. Uns fehlen Investitionen, um uns zukunftsfähig zu machen. Wenn wir heute nicht die richtigen Entscheidungen treffen, werden wir unseren Wohlstand nicht halten können.
Vielen Menschen hier zu Lande geht es gut. Wie ernst ist die Lage?
Deutschland erlebt im Augenblick goldene Jahre: Die Arbeitslosigkeit liegt bei 6,3 Prozent und wird weiter sinken. Die Lohnentwicklung ist hervorragend. Wir haben ein hohes Wachstum. Wir müssen aber erkennen, dass wir nicht gewappnet sind für die Zukunft. Es besteht die Gefahr, dass uns die derzeitige gute Lage träge und überheblich macht.
Wenn Deutschland seine führende Rolle nicht verlieren will, muss es viel mehr Geld ausgeben, um Straßen und Schulen zu sanieren. Sie schlagen unter anderem einen Bürgerfonds für private Anleger vor. Was ist das?
Nach Erhebungen der KfW besteht bei den Kommunen ein Investitionsstau von knapp 118 Milliarden Euro. Meine Kommission schlägt vor, diese Investitionen nicht nur, aber auch durch institutionelle Investoren wie Banken und Versicherungen zu ermöglichen. Aber wir wollen auch den Bürgern eine Chance geben. Denn das niedrige Zinsumfeld ist ein riesiges Problem – nicht nur für institutionelle Anleger, sondern auch für den kleinen Bürger.
Ist das auch etwas für Sparer, die ihr Geld sicher anlegen wollen?
Wir Deutschen sind besonders schlecht im Sparen. Wir tendieren stark dazu, unsere Ersparnisse auf Sparkonten zu legen, wo sie zurzeit an Wert verlieren. Nur wenige Menschen wollen in Aktien anlegen. Die Idee des Bürgerfonds ist, die Sparer an den Infrastrukturinvestitionen zu beteiligen. Der Fonds bündelt auf der einen Seite Projekte und auf der anderen Seite Sparer. Die Bündelung erlaubt es, die Risiken zu begrenzen. In der Kommission schlagen wir vor, dass der Staat eine Verlustgarantie übernimmt, und es damit für Sparer attraktiv macht, in diese Projekte zu investieren und damit auch ihren Kommunen zu helfen.
Wie attraktiv könnte das denn sein?
Ich muss die Erwartungen dämpfen: Wir reden hier nicht von fünf oder sechs Prozent. Wenn ich als Sparer beispielsweise 1,5 Prozent bei einer Beteiligung am Bürgerfonds bekomme, ist das nicht der große Wurf, aber deutlich mehr als es im Augenblick auf dem Sparbuch gibt.
Nicht nur bei Straßen und Brücken gibt es einen Rückstand. Wie groß ist die Lücke beim Ausbau des schnellen Internets?
Die Lücke beim schnellen Internet ist riesig. Ein flächendeckendes Breitbandnetz in Deutschland würde langfristig Investitionen in Höhe von circa 80 Milliarden Euro erfordern. Diese Investitionen sollten in den nächsten fünf Jahren aufgebracht werden. Damit private Unternehmen in diesen Bereich investieren, muss der Staat aber auch die richtigen Anreize setzen.
Wie wichtig ist es, beim schnellen Internet voranzukommen?
Viele Bürger sehen schnelles Internet als etwas, das ihnen privat hilft. Für Unternehmen hat es aber eine ganz große Bedeutung. Ein modernes, innovatives Unternehmen ist sehr stark von der Fähigkeit abhängig, schnell an Daten zu kommen. Deutschland ist hier eines der Schlusslichter in Europa. Selbst die baltischen Länder, die nur die Hälfte unseres Pro-Kopf-Einkommens haben, sind mit einer deutlich besseren digitalen Infrastruktur ausgestattet. Der Rückstand schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland.
Sie bringen öffentlich-private Partnerschaften ins Spiel, um Investitionen anzukurbeln. Das Handwerk befürchtet, dass der Mittelstand dabei zu kurz kommt.
Alle Unternehmen sind besorgt, dass sie zu kurz kommen. Es ist aber nicht Aufgabe des Staates, Unternehmen Vorteile zu verschaffen, sondern den Bürgern und Steuerzahlern die Infrastruktur so günstig und leistungsfähig wie möglich bereitzustellen. Die private Finanzierung ist dabei eine von mehreren Möglichkeiten. Wir sollten den Kommunen keine Option aufzwingen. Ich bin fest überzeugt: Wenn nur einige Vorschläge der Expertenkommission umgesetzt werden, und wir es schaffen, den Investitionsstau aufzulösen, dann werden alle davon profitieren. Es würde sowohl mehr konventionelle Finanzierungen geben als auch mehr öffentlich-private Partnerschaften.
Wird Deutschland seine gute Konjunktur und seinen Wohlstand bewahren können, wenn es den europäischen Nachbarn schlecht geht?
Nein. Wir haben in Deutschland die Illusion, uns von Europa loslösen zu können. Deutschland hat sich in den vergangenen fünf Jahren rapide erholt, wir haben Rekordbeschäftigung. Aber wir müssen realisieren, dass unsere Zukunft nicht in Asien liegt, sondern in Europa. Natürlich wird Asien an Bedeutung gewinnen, aber noch immer wickeln wir fast 70 Prozent unseres Handels mit den Europäern ab. Wir sollten uns in Europa als Gegengewicht zu den USA und zu Asien definieren. Deutschland ist einfach zu klein, um weltweit eine Rolle spielen zu können.
In Europa wird alles vom Streit mit Griechenland überlagert. Gegenseitige Schuldzuweisungen sind an der Tagesordnung. Ist es das, was von der europäischen Idee übrig bleibt?
Konfliktreiche Phasen in einem Integrationsprozess sind normal. Die Frage ist doch, ob wir etwas Konstruktives daraus machen. Für mich ist Griechenland ein extremer Fall aber kein Einzelfall. Auf die Problematik werden wir immer wieder treffen: Wie können wir einem Land helfen, dass eine tiefe Wirtschaftskrise hat, und wie gehen wir mit einem Land um, das sich weigert, mit den europäischen Partnern zusammenzuarbeiten. Für mich ist der Konflikt auch eine Chance, wenn wir jetzt die richtigen Lehren daraus ziehen. Wir müssen unsere europäischen Institutionen grundlegend reformieren, so dass sie im Konflikt Autorität gegenüber den Nationalstaaten haben. Ob Europa zukunftsfähig ist, wird sich in den nächsten zwei, drei Jahren zeigen.
Am 7. Mai wird in Großbritannien gewählt. Auch da geht es um Abgrenzung. Bricht Europa auseinander?
Nein, Europa bricht nicht auseinander. Wir haben ein Europa mit zwei oder drei Geschwindigkeiten: Da ist die Kern-Eurozone, da sind die Länder, die gern dem Euro beitreten würden, und da gibt es Länder wie Großbritannien, die sich selber innerhalb der EU an den Rand drängen. Die einzelnen Länder sollten selbst entscheiden, wie schnell sie sich in den europäischen Prozess einbringen wollen. Ich bin fest überzeugt, dass diejenigen, die die Integration vorantreiben, die Gewinner sind. Ich glaube, Großbritannien ist gerade dabei, sich selbst einen riesigen Schaden zu zufügen.