Rund 1300 Kinder werden hier jährlich geboren: Verliert Herrenberg bald seine Geburtshilfe? Foto: Stefanie /t

Dem Herrenberger Krankenhaus droht die Schließung der Geburtshilfe. Vertreter aus der Hebammenschaft und dem Rathaus kritisieren das geplante Medizinkonzept und warnen vor überfüllten Geburtsstationen und langen Anfahrtswegen für Schwangere.

Wenn die Abstände zwischen den Wehen kürzer und die Wehen selbst stärker werden, sind die entscheidenden Stunden des Geburtsprozesses eingeläutet. Wenn Schwangere an diesem Punkt angelangt sind, empfiehlt sich der schnellste Weg in eine Klinik – sofern man dort entbinden möchte. Beruhigend ist dann, wenn die nächste Geburtsstation nah ist und keine längere Autofahrt notwendig.

 

Um diese Versorgung wird in Herrenberg seit dem Gutachten einer Beratungsagentur gestritten. Das vom Klinikverbund in Auftrag gegebene Gutachten weist auf die mangelnde Wirtschaftlichkeit der Geburtshilfe mit ihren knapp 1300 Geburten pro Jahr hin. Der Gynäkologie mit einem ärztlich- und einem hebammengeführten Kreißsaal droht die Schließung.

Versorgungslage von Schwangeren schon jetzt angespannt

Viele Betroffene sorgen sich ob des Medizinkonzepts, das noch entwickelt wird, und der Klinikreform um Mütter und Babys. Eine Hebamme aus Herrenberg, die nicht genannt werden möchte, äußert sich so: „Wir erhalten regelmäßig Anrufe von verzweifelten Frauen, die ihr Glück bei uns versuchen, da sie andernorts abgewiesen wurden. Was soll aus den Frauen werden, wenn unsere Geburtshilfe wegfällt? Die Lage ist bereits angespannt!“

Den Plänen, dass Frauen aus Herrenberg und dem Gäu zukünftig in Nagold und Böblingen entbinden sollen, stehen die Hebammen kritisch gegenüber. „Wenn eine Geburt ansteht und es schnell gehen muss, die Anfahrtswege aber weit sind, ist keine sichere Geburtshilfe mehr gewährleistet. Wollen wir eine Gefährdung für die werdende Mutter und das Ungeborene in Kauf nehmen?“, fragt die Hebamme. Immerhin gehörten Schwangere und Babys zu der Gruppe der besonders verletzlichen Menschen.

Herrenberger OB kämpft gegen Schließungspläne

Auch Oberbürgermeister Thomas Sprißler befürchtet negative Effekte: „Die Schließung der Geburtshilfe im Herrenberger Krankenhaus wäre ein herber Verlust für Stadt und Umland. Die Geburtshilfe genießt nicht nur in Herrenberg einen hervorragenden Ruf, sondern auch in die Region hinaus. Sie war immer ein Aushängeschild.“ Gemeinderat und Stadt forderten zuletzt von Landkreis und Klinikverbund ein alternatives Konzept für den Klinikstandort. „Selbstverständlich müssen alle Konsequenzen, die aus solch einer Alternative resultieren, klar benannt werden. Sowohl in medizinischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht“, unterstreicht OB Sprißler. Der Ball liege jetzt bei Klinikverbund und Landkreis.

Einer der Hauptgründe für die mögliche Streichung kleinerer Standorte wie Herrenberg ist der eklatante Fachkräftemangel. Bei der Gynäkologie und Geburtshilfe in der Gäustadt sieht die Personaldecke der Hebamme zufolge so aus: „Wir müssen die Abteilung differenziert betrachten. Im Bezug auf die Hebammen sind wir gut besetzt. Wir müssen sogar Bewerbungen ablehnen.“ Schlechter sehe es personell dafür auf der Wochenstation und der Gynäkologie aus: „Hier macht sich Fachkräftemangel bemerkbar“, bestätigt die Geburtshelferin.

Kritik der Hebammen kommt beim Klinikverbund an

Die meisten Sorgen und Kritikpunkte, die die Hebammen öffentlich formuliert haben, gehen an die Adresse des Klinikverbunds und des Landkreises. Im Klinikverbund weiß man um die Sorgen vieler Bürger und Bediensteten: „Wir nehmen die Sorgen der betroffenen Frauen und der Hebammen sehr ernst. Im laufenden Dialog- und Einbindungsprozess hat unter anderem auch bereits ein Treffen mit Vertreterinnen der freiberuflichen Hebammen stattgefunden. Alle Anregungen fließen in die Weiterentwicklung der Medizinkonzeption ein.“

Prognosen der Hebammenschaft, wonach rund 1000 Mütter nicht mehr versorgt werden und andere Stationen überlaufen werden könnten, wenn neben Herrenberg auch Calw und Leonberg ihre Geburtsstationen schließen, tritt der Klinikverbund entgegen: „Die Hochrechnung 2023 geht von 1200 Geburten in Herrenberg und von 565 Geburten in Leonberg aus. Die Sicherung der geburtshilflichen Versorgung ist ein Kernpunkt der Medizinkonzeption. Nach den Analysen des Fachgutachtens ist die Versorgung auch mit einer Konzentration der Geburtshilfen weiterhin gesichert.“

Anfahrtszeiten sollen nur minimal steigen

Dass Anfahrtswege für Schwangere deutlich länger werden könnten, widerspricht eine Simulation des Gutachtens. Demnach betrage die durchschnittliche Auto-Fahrtzeit für Patienten aus dem Einzugsgebiet Herrenberg derzeit 10,6 Minuten bis zur nächsten Klinik. Bei Wegfall des Standorts Herrenberg wären es 11,2 Minuten. Laut dem Gutachten gäbe es niemanden, der einen Fahrtweg von 40 Minuten bis zur nächsten Geburtsstation zurückzulegen hätte.

Aus Hebammen-Sicht fühlen sich die Schließungspläne auch wie mangelnde Wertschätzung an: „Wir könnten ein Bauernopfer werden. Und das, obwohl wir ein funktionierendes System in der Gynäkologie haben. Alleine der Hebammenkreißsaal ist beliebt.“ Ob es solche Modelle zukünftig im Klinikverbund geben wird, steht von offizieller Seite noch nicht fest: „Die mögliche Etablierung hebammengeführter Kreißsäle in Nagold und im Flugfeldklinikum werden geprüft.“ Aus Klinikkreisen hat unsere Zeitung erfahren: Die Chancen auf hebammengeleitete Kreißsäle stehen nicht schlecht. Für werdende Eltern und die Hebammenschaft wären dies die ersten guten Nachrichten in schwierigen Zeiten.

Die Kliniklandschaft im Landkreis Böblingen im Wandel?

Gutachten
 Die Beratungsfirma Lohfert & Lohfert hat eine Analyse der Kliniklandschaft abgegeben. Dem Gutachten zufolge würde das Flugfeldklinikum zum Maximalversorger, das Klinikum Herrenberg zu einer Tagesklinik abgestuft werden.

Geburtshilfe
 Im Kreis Böblingen sollen demnach die gynäkologischen und geburtshilflichen Abteilungen in Leonberg und Herrenberg gestrichen werden. 

Geburten
 In Herrenberg wurden 2020 insgesamt 1328, im Jahr 2021 1415 und 2022 1212 Kinder geboren.

Medizinkonzept
 Die Medizinkonzeption des Klinikverbunds Südwest soll im November 2023 im Kreistag diskutiert und beschlossen werden. Die Stadt Herrenberg fordert einen Aufschub.

Pleitedrohung
 Drei von vier Kliniken im Land droht die Pleite. Im Gespräch sind daher Finanzspritzen von Bund und Ländern für angeschlagene Kliniken.