„Gesicht und klare Kante zeigen“ – das ist das Anliegen des obersten Lokführers Claus Weselsky bei seinem Auftritt auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Der GDL-Chef weiß seine Mitglieder voll hinter sich.
Wenn die Bahn bestreikt wird, muss auch der Streikführer die Straße nehmen: Am Mittwoch ist Claus Weselsky von Berlin über Dresden nach Stuttgart gefahren – um dann am Donnerstag mit Zwischenhalt in Nürnberg nach Sachsen zurückzukehren. Gewöhnlich fährt er 70 000 Kilometer mit der Eisenbahn im Jahr, aber in Streikphasen kommt selbst der Chef der Lokführergewerkschaft nicht ohne seinen Dienstwagen aus.
Etwa 200 GDL-Mitglieder – zumeist Männer – haben sich an diesem Donnerstagmorgen in Bahnhofsnähe versammelt, um mit ihrem Vorsitzenden in der Innenstadt zu demonstrieren. Weselsky muss viele Hände schütteln, ein Selfie nach dem anderen machen. „Wir wollen auch in der Öffentlichkeit Gesicht und klare Kante zu zeigen“, sagt er. So wird auch in Stuttgart sichtbar, wie es einer kleinen Gruppe gelingt, für sechs Tage den deutschen Bahnverkehr lahmzulegen.
Die Mitschuld an den Bahnvorstand verwiesen
Der Unmut in der Bevölkerung wächst. „Dafür haben wir Verständnis und versuchen zu vermeiden, dass es weiter eskaliert“, sagt der Vorsitzende. Dann delegiert er die Mitschuld sogleich an den Bahnvorstand, der sich bisher „keinen Millimeter“ bewege. „Die Millionen Fahrgäste und die Gütertransporteure, denen wir das Verkehrsmittel entziehen, sollen sich an die wenden, die es verursachen.“ Die GDL sei nur „ein Teil des Konfliktes – zum Streik gehören immer zwei“.
Zudem stellt Weselsky die Meinungsumfragen in Frage, deren Ergebnisse gegen die GDL gerichtet sind: „Die veröffentlichte Meinung stimmt nicht immer mit der öffentlichen Meinung überein.“ Viele Arbeitnehmer wünschten es sich doch, „eine vergleichbar starke Gewerkschaft zu haben“. Auf der Rednerbühne garniert er die Zweifel an den Medien noch mit Begriffen wie „Lügenpresse“ und „Schmuddeljournalismus“ – womit vor allem ein Boulevardblatt gemeint ist, zu der er mittlerweile jeglichen Kontakt meidet. Er wolle aber nicht „alle in einen Topf werfen“, fügt er hinzu. Es gebe auch eine „gute Berichterstattung in diesem Konflikt, die ihresgleichen sucht“.
Nicht nur die Arbeitszeit plagt die Lokführer
Auch Michael Pachaly, seit 42 Jahren Lokführer und seit 30 Jahren Mitglied bei der GDL, greift die Kritik an der GDL auf: „Da muss man halt ein dickes Fell haben – es ist in der heutigen Zeit sowieso schwierig, eine Meinung zu vertreten, die nicht der öffentlichen entspricht.“ Der Mannheimer bemüht sich seinerseits um Sachargumente, um die harte Haltung der Gewerkschaft zu begründen. Er hat die Erfahrung gemacht: Wenn er Betroffenen die Hintergründe erläutere, würden sie zumeist verständig reagieren. Auch für den 58-jährigen Güterlokführer steht die Arbeitszeit, die die GDL für die Schichtarbeiter von 38 auf 35 Wochenstunden drücken will, im Vordergrund des Tarifstreits. Seine Arbeit könne praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit an jedem Wochentag beginnen und sei daher überhaupt nicht planbar. Selten arbeite er mal weniger als 45 Stunden in der Woche. Oft fielen mehr als 50 Stunden an. Wenn nun die tarifliche Arbeitszeit reduziert würde, gäbe es immerhin einen Zuschlag ab der 35. Stunde – „das wäre auch ein Anreiz“. Der Schichtdienst müsse dringend attraktiver gemacht werden, mahnt der Mannheimer.
Oftmals sind Stellwerke nicht besetzt
Viele Neuanfänger – Quereinsteiger oder frisch Ausgebildete – würden den Konzern bald wieder verlassen, „weil sie mit den Bedingungen überhaupt nicht einverstanden sind“, sagt Pachaly. Das System Bahn, an dem viele Beschäftigte „mit ihrem Herzblut dranhängen“, sei über die Jahre „wirklich kaputt gemacht worden“. Probleme gebe es in allen Bereichen – er wisse gar nicht, wo er anfangen solle: „Das Material ist schlecht, die Gleisanlagen sind zurückgebaut und beschädigt, die Fahrzeuge sind kaputt, es gibt keine Ersatzteile – und es gibt generell viel zu wenig Personal.“ Ständig erlebten die Lokführer mittlerweile, dass Stellwerke nicht besetzt seien – dann sei in dem davon betroffenen Verkehrsbereich kein Betrieb möglich.
Im Demozug auf dem Schlossplatz angekommen, schimpft Weselsky eine halbe Stunde lang unablässig auf den Bahnvorstand und die Politik, was den Eindruck verstärkt, dass es längst nicht mehr um eine Tarifauseinandersetzung, sondern um einen Fundamentalkonflikt mit dem Management geht. Als „Pfeifen“, „Gaukler“, „Versager“, „Söldner“, „Nieten in Nadelstreifen“ und vieles mehr tituliert er die Führungskräfte. „Die wollen die besten Arbeitgeber sein, aber es sind Luschen, weil sie nicht begreifen, dass sie gegen die eigenen Mitarbeiter antreten“, giftet der oberste Lokführer. „Wir sind es leid, in einem kaputtgesparten, maroden System Dienst zu tun und unsere Freizeit zu opfern für die Typen, die sich in großen Limousinen mit Chauffeur durch dieses Land kutschieren lassen und davon fabulieren, dass sie etwas vom Eisenbahnsystem verstehen.“ Die Beschäftigten dagegen würden „angespuckt und angegriffen, weil diese Typen ihre Arbeit nicht machen“.
Weselsky will doch nicht zur Wiederwahl antreten
Als „Schlüsselfigur“, der großes Vertrauen bei der GDL genieße, beschreibt der Lokführer Pachaly den Vorsitzenden – als eine „starke Persönlichkeit, die einen ganz großen Teil dazu beiträgt, dass die Mitglieder so zusammenhalten“. Großes Vertrauen hätten sie in seinen Kurs – immerhin gehe es um die Existenz der Gewerkschaft im Wettbewerb mit der EVG. Im September steht die nächste Wahl des Vorsitzenden an. „Alle Welt bangt momentan darum, dass ich womöglich noch mal antrete“, sagt der 64-jährige Weselsky und legt genüsslich eine Kunstpause ein, die von „Clausi, Clausi, Clausi“-Rufen gefüllt wird. „Ich werde es nicht tun.“ Denn der Nachfolger stehe fest: Bundesvize Mario Reiß solle eine Chance bekommen. Es möge aber niemand „davon träumen, dass dann alles ganz anders wird“. Er werde mit Freude und Stolz das Mandat niederlegen, denn er sei „ganz sicher, dass sich die GDL zum Besseren verändern wird“ – in seinem Sinne.