Anneleen Dedroog in Johan Ingers „Sweet, Sweet“ Foto: Regina Brocke

Die Erfolgsgeschichte geht weiter: Mit Rückblicken hält sich Eric Gauthier nicht lange auf. Vielmehr macht das siebenteilige Jubiläums-Programm „Big Fat Ten“ deutlich, dass Gauthier Dance fit für die Zukunft ist. Fünf Uraufführungen stehen dafür.

Stuttgart - Kunterbunter Konfettiregen am Aschermittwoch? Das gibt es wohl nur im Theaterhaus Stuttgart und unabhängig von der närrischen Jahreszeit. Mitten unter der Woche feiert Gauthier Dance den ersten runden Geburtstag seiner Kompanie und erklärt in drei Szenen sogleich, warum die Party exakt am 1. März steigen muss.

Erstes Bild: ein Tisch mit drei Stühlen. Zwei Gäste aus der ersten Reihe dienen als Stellvertreter für Claudia Bauer und Meinrad Huber. Die Tanzagenten, die schon Ismael Ivo nach Stuttgart holten, waren die erste Anlaufstation für Gauthier, als dieser die Idee eines eigenen Ensembles hatte – damals noch Solist beim Stuttgarter Ballett. Zweites Bild: Auf Werner Schretzmeiers rotem Sofa nimmt nicht der Theaterhaus-Leiter selbst Platz, sondern der niederländische Choreograf Hans van Manen.

Als treuer Weggefährte weiß er genau, was Schretzmeier dem ambitionierten Kanadier am 1. März 2007 geantwortet hatte: Stuttgart braucht eine zweite Tanzkompanie! Dieses Ja zu einem Hirngespinst, das sechs Monate später die Bühne ganz real und im Sturm eroberte, betrachtet Gauthier als Start der Kompanie. Drittes Bild: Egon Madsen, leibhaftig er selbst, sitzt mit Gauthier bei einem Glas Wein auf einer nachgebauten Hoteltreppe. Zeit für den Chef und Coach der Kompanie, die 41 Persönlichkeiten, die Gauthier Dance verkörperten und bis heute ein Gesicht geben, in eingeblendeten Fotos Revue passieren zu lassen.

Phallus und Lichtstrahl

Genug der Rückschau! Keine geringere als Marie Chouinard, lebende Legende des zeitgenössischen Tanzes, setzte mit dem 1994 entstandenen Solo „Prélude à l’après-midi d’un faune“ den Auftakt im Programm „Big Fat Ten“. Anders als Sidi Larbi Cherkaouis Version beim Ballettabend „Verführung“ im Opernhaus orientiert sich die Kanadierin deutlich an Vaslav Nijinskys Skandalerfolg von 1912. Als eher androgyner denn weiblicher Faun bewegt sich Anna Süheyla Harms mit abgewinkelten Händen, geflexten Füßen und überformter Muskulatur wie eine Vasenfigur vor nachtschwarzem Hintergrund, der immer wieder durch schmale Lichtstreifen erhellt wird. Es ist die kitzelnde Mittagssonne, keine Nymphen, die das sexuelle Verlangen des Fauns weckt, das in eine animistische Vereinigung von Kreatur und Natur mündet. Indem Chouinards Faun mit seinem als Phallus gebrauchten Horn den Lichtstrahl penetriert, erobert der Tanz zugleich den Raum. Gerührt von der behutsamen Darbietung ihrer Parabel über das Begehren eilte Chouinard auf die Bühne und schloss die Interpretin in die Arme. Sandra Bourdais und Maurus Gauthier feierten in Nacho Duatos Auszug aus der Bach-Hommage „Multiplicity“ die innige Verbindung von Tanz und Musik. Der „Violoncello“-Pas-de-deux veranschaulicht, wie sich die Impulse des Musikers auf sein Instrument übertragen, bis sie zu einem Geschöpf verschmelzen und eine Melodie erzeugen, die für den Moment ein bewegtes Eigenleben führt.

Komisch und bissig: Itzik Galilis „My Best Enemy“, eigens fürs Jubiläumsprogramm von Gauthier Dance kreiert. Rosario Guerra und Jonathan dos Santos liefern sich in dieser TV-Show-Persiflage einen verbalen Schlagabtausch, dessen Silben den beiden als Rhythmus für die windungsreiche Choreografie dienen. Eine blonde Marilyn funkt dazwischen, bis dem Spektakel, in dem es nicht nur um Kommerz, sondern auch ums Aufhören geht, das Licht entzogen wird.

Rasante Dreh- und Schlingmomente

In „They’re In Your Head“ taucht der sonst bei Hubbard Street Dance in Chicago beschäftigte Alejandro Cerrudo die Bühne in nächtliche Stimmung, lässt das Ensemble über die Kleidung Rauchzeichen abgeben. Auch wenn er den Trockeneiseffekt überdosiert: Sein Stück besticht durch den fortgesetzten Fluss poetischer Bilder. Verglichen mit dem ebenfalls für die gesamte Kompanie geschaffenen Stück „Streams“ des griechischen Choreografen Andonis Foniadakis, der erstmals für Gauthier Dance arbeitet, wirkt Cerrudos Beitrag ausgereifter. Foniadakis x-förmig nach außen geschlenderte Beinschwünge mögen seiner Choreografie eine eigene Note geben, doch schon bald münden die rasanten Dreh- und Schlingmomente in ein haltloses Durcheinander.

Klar über drei Streifen Sand gebaut und in der mal nervösen, mal verlangsamten Körpersprache ungemein mitteilsam: Johan Ingers „Sweet, Sweet“ für drei Tänzerinnen. Inspiriert von der provokanten Aufnahme „Three Graces“ der Fotokünstlerin Sally Mann behaupten sich hier drei glamourös funkelnde Protagonistinnen, aller Nöte zum Trotz. Wenn die Knie nach innen knicken und die Hand zwischen die Beine fährt, darf sogar eine drückende Blase den Impuls für den Tanz liefern. Wer das Bild kennt, erkennt den Sinn.

Eric Gauthiers eigener Beitrag zu „Big Fat Ten“ knüpft an seinen ersten Erfolg als Choreograf an. Als Weiterentwicklung des Solos „Ballet 101“, entwickelt für den Noverre-Abend 2006, dekliniert Gauthier in „Ballet 102“ nun Pas-de-deux-Positionen durch: darunter Zitate aus „Schwanensee“, „Onegin“, „Romeo und Julia“, aber auch aus Kinofilmen wie „Pulp Fiction“. Theophilus Vesely und Barbara Melo Freire bringen sie vorbildlich zur Anschauung und einander damit fast um den Verstand. Ein Spaß mit integrierter Ballettgeschichte.

Nächste Vorstellungen am 4., 5. und 10. bis 14. März im Theaterhaus. Kartentelefon: 40 20 7-20, -21, -22, -23.