Im Herzen der Stadt: die Athenaeum-Buchhandlung in Amsterdam Foto: Heimann

Flandern und die Niederlande sind das gemeinsame Gastland der Frankfurter Buchmesse, die in der kommenden Woche eröffnet wird. Das Motto des Doppelauftritts: „Dies ist, was wir teilen“ – und jenseits der gleichen Sprache ist das eine vitale Szene junger, origineller und quicklebendiger Autoren.

Stuttgart - In Amsterdam laufen sie sich ständig über den Weg: Schriftsteller, Verleger, Kritiker. Die großartige Stadt ist das unbestrittene Zentrum einer sehr lebendigen niederländischen Literatur- und Verlagsszene. Zwar soll man in den Cafés früher, vor dem Touristenboom, ungestörter gewesen sein, aber beliebte Treffpunkte des lockeren Austauschs sind sie noch immer. Und auch die vielen kleinen und mittelgroßen Literaturverlage befinden sich fast alle nah beieinander im Zentrum der Stadt, viele in grandiosen alten Bürgerhäusern entlang der Grachten. Etablierte und im deutschen Sprachraum vielgelesene Autorinnen und Autoren wie Harry Mulisch, Cees Nooteboom, Margriet de Moorund Connie Palmen starteten von hier aus ihren literarischen Triumphzug. Nun wollen ihnen jüngere nachfolgen – mit Büchern, die vielfach zum ersten Mal auf Deutsch zu haben sind. Dabei ist der Strom an interessanter Literatur, die Anspruch und Unterhaltung miteinander verbindet, ohnehin seit Jahren nicht abgerissen.

Ein dicht gespanntes Netz aus Förderung und Publikationsmöglichkeiten trägt dazu bei, dass kaum ein Talent bloß für die Schublade schreibt. Die junge Schriftstellerin Wytske Versteeg, die mit großem Rucksack auf dem schmalen Rücken durch das Amsterdamer Zentrum führt, wurde entdeckt, als sie bei einem der zahlreichen literarischen Wettbewerbe auftrat und gewann. Die heute 33-Jährige wirkte von Beginn an nicht wie eine unbedarfte Anfängerin. Sie wusste, wovon sie erzählen wollte, von der Zerbrechlichkeit der Menschen, und vor allem: Sie wusste wie. „Ich habe während meines Studiums immer geschrieben, hatte aber das Gefühl, ich habe noch nicht die Erfahrung, um einen Roman zu schreiben. Ich war einfach als Mensch noch nicht fähig dazu“, sagt sie.

Ein tolerantes Land – wirklich?

In ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Roman „Boy“ erzählt sie von einer Frau, die über den Selbstmord ihres adoptierten Sohnes nicht hinwegkommt. Die wütende und verbitterte Ich-Erzählerin kann sich und der Welt nicht verzeihen und sucht verzweifelt nach Schuldigen. Denn so viel steht fest: Der Junge, schon durch seine dunkle Hautfarbe als anders markiert, wurde in den Selbstmord getrieben. Wytske Versteeg zeichnet in ihrem klug komponierten und psychologisch genau gearbeiteten Roman das überzeugende Bild einer immer einsamer werdenden Frau. Und sie stellt die Frage, ob ein Land wie die Niederlande offen für Menschen ist, die anders sind. „Wir denken gewöhnlich, wir seien unglaublich tolerant. So ist es sehr schwierig, über Rassismus zu sprechen und eine Diskussion darüber zu führen, wie wir miteinander umgehen.“

Vermutlich gibt es kaum einen anderen niederländischen Schriftsteller, der genauer die Literaturszene als Joost de Vries verfolgt. Es ist schlichtweg sein Job, denn er ist Literaturchef des renommierten Wochenmagazins „De Groene Amsterdammer“. Neben der Arbeit als Kritiker schreibt der agile, selbstbewusste 33-Jährige selbst Romane. Sein nicht ganz unbescheidener Anspruch: Sie sollen ausdrücklich anders sein als die meisten Bücher, die er rezensieren muss. „Es gibt so viele sehr traurige, feierliche, ernste Charaktere in der Literatur. Ich mag Figuren, die lustig und albern sind. Literatur sollte durchaus Stoff zum Nachdenken liefern, aber auf vergnügliche Weise“, sagt er.

Spaßig ist sein Roman „Die Republik“ allemal. Die überdrehte Gesellschaftssatire versammelt eine extravagante Schar von Wissenschaftlern, deren Spezialgebiet Hitlerstudien sind. Sex und Intrigen, luxuriöse Hotels und schummrige Hinterzimmer, gewandte Reden und schmutzige Witze – Jost de Vries mixt das alles zu einer großen, wilden, abseitigen Groteske. Er jongliert dabei mit allerlei Zitaten aus Filmen, Popmusik, Literatur und Philosophie – und bleibt trotzdem souveräner Regisseur seiner Story.

Calvinisten hier, Katholiken da

Zweieinhalb Jahre hat er an dem Roman gearbeitet, es sei die lustigste Zeit seines Lebens gewesen. Das Buch wurde ein veritabler Erfolg: 18000 Exemplare konnte der Verlag absetzen. Das mag nicht ganz und gar überwältigend klingen, doch in den Niederlanden leben lediglich 16 Millionen Menschen, Flandern hat 6 Millionen Einwohner. Die Zahl potenzieller Leser ist mithin eher klein. Während etablierte Autoren ihr Stammpublikum, das mit ihnen älter geworden ist, längst sicher haben, werden die jüngeren Schriftsteller häufig eher von Altersgenossen gelesen. Sie alle profitieren von einer außergewöhnlichen Leseförderung. Deren Höhepunkt ist die Buchwoche im März, die als großes Leseevent mit Bücherball und Buchgeschenk inszeniert wird.

Die international ziemlich einzigartige Buchwoche verbindet die Niederlande und das belgische Flandern. Doch in vielerlei Hinsicht überwiegt, jenseits der gemeinsamen Sprache der beiden Regionen, doch das Trennende. Die meisten Holländer interessiert Flandern nicht sonderlich. Aber wie ist es umgekehrt? Der flämische Schriftsteller Peter Terrin, der nah bei der traumhaft schönen flämischen Universitätsstadt Gent lebt, könnte es wissen. Er sagt: „Es gibt immer noch eine Art Grenze zwischen Holland und Flandern. Die Lesekultur ist eine andere. Die Holländer sind Calvinisten, sie lesen die Bibel schon immer intensiver, als die römischen Katholiken das getan haben. Vielleicht ist die Grenze zwischen Nord- und Südeuropa eine, die durch Belgien verläuft.“ Terrins Verlag kommt aus Amsterdam. Das ist für nahezu alle bekannteren flämischen Autoren so: Wer etwas auf sich hält und Erfolg haben will, der wird in den Niederlanden verlegt.

Das Achtundsechziger-Autorennen

Und Peter Terrin, der seine Manuskripte auf einer alten Schreibmaschine tippt, ist erfolgreich. Er gehört längst zu den bekanntesten Autoren in Flandern. Seine bislang sieben Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auf Deutsch kann man ihn jedoch erst jetzt entdecken. Mit einem ungewöhnlichen Buch, denn mit „Monte Carlo“ begibt sich der Schriftsteller in eine Welt, die man bislang eher nicht auf der literarischen Landkarte hatte. Man schreibt das Jahr 1968, doch von den Verwerfungen jener Zeit ist nichts zu spüren. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein Formel-1-Mechaniker, der eine berühmte Schauspielerin vor einer Stichflamme schützt und dabei selbst schwere Verletzungen erleidet. Aber Peter Terrin hat zum Glück dann doch mehr als einen Rennsport-Roman geschrieben. Er verfolgt vor allem das weitere Schicksal des Schwerverletzten. Dieser will nicht als Held gefeiert werden, aber ein wenig Dankbarkeit erhofft er sich doch. Als auch diese ausbleibt, zieht sich der körperlich und auch seelisch versehrte Mann mehr und mehr in sich selbst zurück.

Die Niederlande und Flandern werden nach 1993 zum zweiten Mal auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast sein. Vom ersten gemeinsamen Auftritt profitierten von wenigen Ausnahmen jedoch eher holländische Schriftsteller. Das soll sich jetzt, wenn die größte Buchmesse der Welt am kommenden Mittwoch eröffnet wird, ändern – nicht umsonst sind ebenso viele flämische wie niederländische Autoren nach Frankfurt eingeladen, jeweils 35. Für manch einen erscheint allein das schon wie ein kleines Wunder. Auf jeden Fall aber ist es ein neuer, vielversprechender Anlauf.

Literaturtipps:

Wytske Versteeg: Boy. Übersetzt von Christiane Burkhardt. Verlag Klaus Wagenbach, 240 Seiten, 10,90 Euro.

Joost de Vries: Die Republik. Übersetzt von Martina den Hertog-Vogt. Heyne Verlag, 304 Seiten, 19,99 Euro.

Peter Terrin: Monte Carlo. Übersetzt von Christiane Kuby und Herbert Post. Berlin Verlag, 192 Seiten, 18 Euro.